GRO_Taschenbuch_MUSTER_2019
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te, dass sie Charlotte persönlich gekannt hatte. Die Betroffenheit über<br />
ihren Tod war ungekünstelt und absolut glaubhaft. Dies übertrug sich<br />
auf die Trauergesellschaft und ging von dort zurück. Wir alle schienen<br />
wie in einem Kreis miteinander verbunden. Niemals zuvor hatte ich<br />
an einer solchen Beerdigung teilgenommen.<br />
Und dieses Gefühl geschlossener Trauer war es vielleicht auch, das es<br />
am Ende möglich machte, dass sich auf dem Weg von der Kapelle zum<br />
Grab etwas fast Gelassenes über uns alle legte. Etwas, zu dem nichts<br />
so gut passte wie der wunderbare Sonnenschein und die Vögel, die<br />
in den Bäumen ihr Liedchen trällerten und so das Leben selbst anpriesen.<br />
Als wir vor dem geöffneten Grab standen, gingen mir noch einmal die<br />
Worte Isolde Bergers durch den Kopf. Das Besondere daran war die<br />
große Offenheit gewesen. Auch die heiklen Punkte, die es im Leben<br />
jedes Verstorbenen gibt und die sonst auf Beerdigungen hinter mehr<br />
oder weniger vagen Andeutungen versteckt werden, hatte sie angesprochen:<br />
„Vor allem hat Charlotte es nie wirklich verwunden, dass sie nach<br />
einem schlimmen Streit mit ihrem Mann vor seinem plötzlichen Tod<br />
keine Gelegenheit mehr zur Versöhnung hatte. Sie machte sich unglaubliche<br />
Vorwürfe, weil sie sich schuldig fühlte an diesem Streit. Ob<br />
sie es wirklich war oder nicht, erscheint dabei fast unwichtig, denn sie<br />
selbst fühlte sich schuldig.“<br />
Danach hatte sie eine Pause von vielen Sekunden gemacht.<br />
„Aber die Geschichte geht weiter“, sagte sie schließlich und manch<br />
einer sah sie erstaunt an. „Ich weiß nicht, wie vielen von Ihnen sie<br />
davon erzählt hat. Manchmal war es Charlotte ein wichtiges Bedürfnis,<br />
darüber zu reden. In anderen Zeiten breitete sie lieber den Mantel<br />
des Schweigens darüber aus. Ich selbst war mir nicht sicher, ob<br />
ich die ganze Geschichte hier und zu diesem Anlass erzählen dürfte,<br />
und genau genommen bin ich es noch immer nicht. Aber nach Absprache<br />
mit Charlottes engsten Freunden und Angehörigen will ich es<br />
trotzdem tun, denn sie alle haben mir meinen persönlichen Eindruck<br />
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