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Berliner Zeitung 29.05.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 123 · 2 9./30. Mai 2019 3· ·<br />

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Union steigt auf<br />

Pyrotechnik im Stadion ist eigentlich verboten und doch Teil der Fankultur,die im Aufstiegsfall auch von den Spielerngepflegt wird.<br />

OSTKREUZ/SEBASTIAN WELLS<br />

Aber etwas fehlte.Etwas zum Heben,<br />

Halten, stolz in den Nachthimmel<br />

Stemmen. Etwas Glänzendes zum<br />

Anschauen, Küssen, Innig-in-den-<br />

Arm-nehmen. Es fehlte: der Pokal –oder eine<br />

Schale, wenigstens dieses felgenähnliche<br />

Ding, das eine Mannschaft überreicht bekommt,<br />

wenn sie als Meister der Zweitklassigkeit<br />

in die Erste Bundesliga aufsteigt. Tja, und<br />

jetzt? Wohin mit den Händen, die etwas packen,<br />

diesem Moment am liebsten an die Gurgel<br />

gehen wollten vorGlück?<br />

Stürmer Sebastian Polter war als einer der<br />

ersten Spieler des 1. FC Union auf die weiße<br />

Überdachung der Auswechselbank gestiegen.<br />

Hinter ihm lag das Nullzunull im zweiten<br />

Relegationsspiel gegen den VfB Stuttgart,<br />

diese nervenfressenden und herzzerreißenden<br />

und hirnbetäubenden 90 +5Fußballkampfminuten.<br />

Vorihm standen Tausende<br />

im Aufstiegsrausch vereinte Unioner,die den<br />

Rasen überrannt hatten wenige Sekunden<br />

nach dem Abpfiff. Im Fußballverbandsdeutsch<br />

heißt das positiver Platzsturm.<br />

Negative Folgen gab es keine, die Zäune<br />

wurden gleich geöffnet, als die Ersten zu klettern<br />

begannen. Wobei, die Torlatte, die das<br />

Gewicht vonzehn wippenden Fans aushielt,<br />

die hatte schon arg gelitten; müde hing sie<br />

am Ende durch, vielleicht war es aber auch<br />

ein Lächeln. Na ja, und dann noch das Tornetz,<br />

das alle Maschen abgeben musste,und<br />

okay, der arme Rasen, den die Platzstürmer<br />

herausrissen und in Bierbecherträger oder<br />

Kleidungsstücke gehüllt wie einen Schatz<br />

nach Hause trugen.<br />

Polter also schnappte sich den nächstbesten<br />

Pokalersatz, ein etwa unterarmgroßes<br />

und halb gefülltes Tulpenglas. Erhievte es<br />

nach oben, kippte sich und einigen Fans das<br />

Bier in den Hals –aber nein, das war es nicht;<br />

zu leicht ist so ein Glas und zu zerbrechlich,<br />

wenn endlich alle Dämme brechen dürfen<br />

im Stadion An der Alten Försterei.<br />

EinKlub,der niemals vergessen will, wird<br />

sich an diese Nacht immer erinnern.<br />

Rütteln an der Eckfahne<br />

Dann hatte Polter,28, enge rote Boxershorts,<br />

Jeanskutte, die Stirn inKlubfarben umbunden,<br />

plötzlich eine Eckfahne aufgetrieben. Er<br />

schwenkte sie, rüttelte an ihr, schrie sie an –<br />

doch nee,fühlte sich irgendwie auch nicht so<br />

richtig an; hier gab es kein Torzubejubeln,<br />

hier gab es den größten Moment der jüngeren<br />

Klubgeschichte zu feiern. Die Eckfahne<br />

landete in der Masse. Später auch Polters<br />

Strümpfe, die ein zwischen Freude und Ekel<br />

unentschiedener Fanmit spitzen Fingern in<br />

einem leeren Becher verstaute.<br />

„Aufstieg jetzt!“ war das Motto der vergangenen<br />

Wochen. Doch es war mehr eine<br />

Forderung des Anhangs als die offizielle Erwartungshaltung<br />

des Klubs. Aber natürlich<br />

hatten sie am Montag vorgesorgt. Aufden T-<br />

Shirts der Spieler stand Weiß auf Rot geschrieben:<br />

„Die Zeit ist nun gekommen.“<br />

Und immer<br />

erinnern<br />

Die Aufstiegsparty des 1. FC Union endet in einem geordneten Chaos.<br />

Die Bundesliga kann sich auf einen besonders ansteckenden Verein freuen<br />

VonPaul Linke<br />

Und inden Gedanken der meisten Unioner<br />

konnte man ohne hellseherisches Talent lesen:<br />

So ne Scheiße,wir sind aufgestiegen!<br />

Der 1.FCUnion wird abdem kommenden<br />

Sommer in der Bundesliga spielen; das<br />

ist ganz nüchtern betrachtet der Lohn für<br />

eine herausragende Saison mit nur fünf Niederlagen,<br />

für leidenschaftliche Spiele,für die<br />

bedingungslose Unterstützung der Fans, die<br />

den Fußballgott besingen, aber schon so oft<br />

zweifeln mussten an seiner Existenz.<br />

Union ist benachteiligt, beschissen und<br />

verpfiffen worden in der Vergangenheit und<br />

lernte dabei, wie man aufrecht bleibt im Augenblick<br />

des Scheiterns; wie man erst Trotz<br />

entwickelt, dann Stärke daraus gewinnt; wie<br />

man einen Markenkern formt, professionell<br />

ein Image pflegt und sich eine Nische sucht<br />

in der modernen Fußballwelt. Union, so geht<br />

die Erzählung, hat mehr Gefühl als Geld.<br />

Union baut Spieler nicht zu Stars auf, Union<br />

bringt Typen hervor. Mallaute,mal leise.<br />

Als Partykönig Polter („72 Stunden feiern<br />

wir jetzt durch!“) das Mikrofon an Urs Fischer<br />

reichte, sagte der sichtlich überforderte<br />

Trainer:„Ichweiß gar nicht, was ich sagen<br />

soll, deshalb sage ich nichts und gebe<br />

das Mikro weiter.“ Dafür versprach der für<br />

Presse und Stadion zuständige Lautsprecher<br />

Christian Arbeit: „Nehmt euch Mittwoch<br />

nichts vor, wir setzen die Stadt in Brand! Wir<br />

besetzen das Rathaus! Wir feiern, bis wir<br />

nicht mehr können.“ Das war, bevor man<br />

ihm die langen Haare abrasierte. Solautete<br />

nun mal der Wetteinsatz. Arbeit war nicht<br />

der Einzige, der nicht daran geglaubt hatte,<br />

dass dieser Tagtatsächlich kommen würde.<br />

An diesem Mittwoch wird Union weiterfeiern,<br />

und gegen die Einhaltung des straffen<br />

Zeitplans können alle überzeugten Langhaarträger<br />

sorgenfrei wetten: Am Anleger<br />

East Side Gallery legt die „Viktoria“ ab (16<br />

Uhr), an Bord die Protagonisten des Aufstiegs<br />

plus Anhang; eine Stunde später Öffnung<br />

der Stadiontore für die Fans; dann Ankunft<br />

des Partyschiffs am Anleger Luisenhain<br />

(18 Uhr); Termin auf dem Rathausbalkon<br />

(18.30 Uhr); nach dreißig Minuten<br />

AbfahrtRichtung Stadion; ab halb acht Bühnenprogramm<br />

und um zehn Uhr–angeblich<br />

–das Ende der Veranstaltung.<br />

Klubpräsident Dirk Zingler, der sich trotz<br />

Polters heiserer Aufforderung („Wir wollen<br />

den Präsi sehen!“) nicht mehr gezeigt hatte<br />

auf der Haupttribüne, sagte vor einigen Jahren,<br />

ein Aufstieg in die Bundesliga könnte<br />

wie ein Jahr Urlaub werden. Zusatz: „In den<br />

Urlaub fährt man, wenn man es sich leisten<br />

kann und keine anderen Dinge dadurch versäumt.“<br />

Sie dürfen jetzt ihre Koffer packen.<br />

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Aber was nehmen sie mit? Und was können<br />

die Gastgeber in München, Dortmund oder<br />

Bremen erwarten, wenn diese Unioner sie<br />

bald besuchen? „Eine Mannschaft“, sagte<br />

Urs Fischer bei der Pressekonferenz, „nein,<br />

einen Klub mit einem Geist.“<br />

DieNische,inder sich der Klub so gemütlich<br />

eingerichtet hat, wirdbald vonallen Seiten<br />

ausgeleuchtet; da kann sich nicht mal ein<br />

Geist unsichtbar machen. DieBundesliga ist<br />

ein hyperaktives und auf Dauerpräsenz getrimmtes<br />

Premiumprodukt des deutschen<br />

Fußballs. Sie steht für vieles, was Union eigentlich<br />

ablehnt und was sich unter dem<br />

Kampfbegriff Kommerzialisierung zusammenfegen<br />

lässt. Union will bekanntlich anders<br />

sein, anders bleiben. Aufder Klubhomepage<br />

steht: „Wir haben eine eigene Auffassung<br />

von Fußballkultur. Schon immer.“ Aus<br />

der Trotzphase sind sie noch nicht raus.<br />

Die Spiele in der Alten Försterei sind wie<br />

Messen des Widerstands, aber auch wie<br />

Rockkonzerte, die durch neunzig Minuten<br />

Fußball unterbrochen werden. Die Playlists<br />

haben eine emotionale Dramaturgie, als<br />

hätte der Listenbeauftragte DJ Wumme eine<br />

Vorliebe für Konzeptalben entwickelt. Am<br />

Montagabend: u. a. „Into the Light“ (Heroes<br />

&Zeros), „Wild Boys“ (Duran Duran), „Aliens<br />

Exist“ (blink 182), „Alles auf Rausch“ (Feine<br />

Sahne Fischfilet) und vordem Anpfiff„Eisern<br />

Union!“ von Nina Hagen. „Passt auf euch<br />

auf“, sagte Christian Arbeit vordem Spiel. Er<br />

klang wie ein besorgter Frontmann.<br />

Union ist ein Verein zum Hingehen, Mitsingen,<br />

Mitmachen, Blutspenden, Stadionbauen.<br />

Und einer, der jetzt erst beweisen<br />

muss, wie er im Konzert der Großen seinen<br />

Sound behält. Zu dem gehörte sicherlich<br />

nicht der Text,der am Montag immer wieder<br />

über die Werbebanden rollte: „Fußball im<br />

Unterhaus? Wohnen im Penthouse!“ Es war<br />

eine Anzeige für Eigentumswohnungen in<br />

Stuttgart, die auch vorderWaldseite prangte.<br />

Dassind die Folgen der Zentralvermarktung.<br />

Zu den Widersprüchen, mit denen der<br />

Verein klarkommen muss in Zukunft, gehört<br />

sicherlich auch der Umgang mit Pyrotechnik.<br />

Solange die Herren Fußballfunktionäre<br />

einfach nicht begreifen, dass ihre Kriminalisierungsstrategie<br />

gescheitertist,ist das Abbrennen<br />

vonBengalos oder Rauchtöpfen offiziell<br />

verboten in deutschen Stadien.<br />

Erlaubt ist es auf dem Parkplatz, wo der<br />

Mannschaftsbus vor dem Spiel gegen Stuttgart<br />

eintauchte in eine rote Wolke, wo es<br />

knallte und zischte und explodierte. Die Bilder<br />

wurden auf der Anzeigetafel gezeigt. Es<br />

gab Jubel. Undnochmehrakustische Zustimmung,<br />

als Polter und Kollege Felix Kroos später<br />

auf der Überdachung der Ersatzbank zu<br />

zündeln begannen. Frontmann Arbeit erinnerte<br />

sich kurzanseine Aufgabe als fürsorglicher<br />

Stadionpapa: „Achtung! Achtung! Das<br />

Abbrennen von pyrotechnischen Erzeugnissen<br />

ist verboten“, nuschelte er ins Mikrofon.<br />

Dann brüllte er:„Aber es ist so geil.“<br />

Im Relegationskampf Klein gegen Groß<br />

waren die Sympathien ohnehin klar verteilt.<br />

Union hat trotzdem viele neue Freunde gewonnen<br />

an diesem Abend. Denn es war tatsächlich<br />

schwierig, sich diesem Zauber zu<br />

entziehen, den dieses Stadion entfaltete,den<br />

diese Fans ihrer Mannschaft einhauchten.<br />

Gerade die vielen Kinder, die hinterher<br />

auf den Schultern ihrer Eltern über den nun<br />

löchrigen Rasen getragen oder an der Hand<br />

geführt wurden, bekamen leuchtend große<br />

Augen. In diesem Chaos herrschte eine Ordnung,<br />

die sie zu begreifen versuchten. Nur<br />

manchmal war die Verunsicherung größer,<br />

wenn etwa der Papa seine Hände tief in den<br />

Rasen grub und die Beute wie einen Pokal<br />

nach oben riss. Darauf ist Sebastian Polter<br />

nicht gekommen.<br />

Man spricht in Fußballfanfamilien gern<br />

von einem Virus, der von Generation zu Generation<br />

übertragen wird. Zur Inkubationszeit<br />

gibt es leider keine fundierten Erkenntnisse,aber<br />

man weiß aus Erfahrung, dass sie<br />

irgendwann ausbricht, diese Fußballkrankheit.<br />

Wenn der Ball im falschen Netz landet<br />

und das Gegentor sich erstmals wie ein<br />

Schlag in die Magengrube anfühlt, sinken die<br />

Heilungschancen rapide.<br />

Die vier Grundregeln<br />

Vor zwei Jahren kam „Mein erstes Unionbuch“<br />

auf den Fanmarkt, man kann ja nicht<br />

zu früh beginnen mit der Virusübertragung.<br />

Die Geschichte ist simpel: Zum ersten Mal<br />

gehen der kleine Paul und die größere Lisa<br />

mit ihrem Papa ins Stadion An der Alten<br />

Försterei. Union geht in Führung, es fällt der<br />

Ausgleich, am Ende wirdesein knapper Sieg,<br />

weil knappe Siege nun mal die besten sind.<br />

DerHandlungsstrang wirdimmer wieder<br />

unterbrochen von Einschüben zur Hymne<br />

(„Wird immer im Stehen gesungen“), zur<br />

Aufgabe der Zuschauer („Sie stehen mit Leidenschaft<br />

und Herz hinter ihrer Mannschaft“)<br />

und führt zuden vier Grundregeln,<br />

die in Köpenick gelten: „Pfeife nie die eigene<br />

Mannschaft aus“, „Gehe nie vor Abpfiff aus<br />

dem Stadion“, „Mache niemals einen aus<br />

dem Team zum Sündenbock“, „Heiserkeit ist<br />

der Muskelkaterder Unioner“.<br />

Vielleicht ist es ja das,was der 1. FC Union<br />

der Bundesliga geben kann. Dass Zusammenhalt<br />

wichtiger ist als Erfolg. Unddass der<br />

Fußball noch in der Lage ist, mit Gefühlen zu<br />

spielen, ohne sie gleich in Geld umwandeln<br />

zu müssen. Für diese Hoffnung zahlt man<br />

dann auch gern.<br />

Paul Linke<br />

trägt ein Fußballvirus in sich,<br />

fühlt sich aber meistens gesund.

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