Berliner Zeitung 29.05.2019
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 123 · 2 9./30. Mai 2019 – S eite 9 *<br />
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Berlin<br />
Mit dem Elektrobus<br />
zu den Kranichen: Ein<br />
Besuch in Trebbin<br />
Seite 15<br />
Seltsames Geschäft: 26 Sozialwohnungen für knapp 16 Millionen Seite 10<br />
Umstrittene Demo: Gegen den Al-Kuds-Marsch formiert sich ein Bündnis Seite 13<br />
Stadtbild<br />
Das Wild<br />
entwischt<br />
Torsten Landsberg<br />
sieht Bewegung im<br />
hohen Gras.<br />
Ursprünglich zur Information installierte<br />
Hinweisschilder können<br />
manchmal mehr Fragen aufwerfen<br />
als sie beantworten. Am Ende des<br />
Damwild-Geheges im Botanischen<br />
VolksparkBlankenfelde hängt ein laminiertes<br />
Schreiben des Pankower<br />
Forstamts am Zaun. DasAmt erklärt<br />
damit, warum ein Rehderzeit außerhalb<br />
des Geheges lebt: Es sei „aus<br />
falsch verstandener Tierliebe“ befreit<br />
worden. Dem Tier gehe es gut,<br />
und bei einer Begegnung gebe es keinen<br />
Grund, die Polizei zu verständigen.<br />
Die zentrale Frage lässt es unbeantwortet<br />
–und die Besucherinnen<br />
und Besucher gleichermaßen hilflos<br />
zurück: Warum wird das Reh nicht<br />
einfach zurück ins Gehege befördert?<br />
Sie schließt sich an viele weitere<br />
Ungewissheiten an, die entlang<br />
des Geheges aufploppen, schließlich<br />
ist besagte Erklärung erst an dessen<br />
Ende zu finden. Und daauf dieser<br />
Strecke just das Jungtier den Weg<br />
kreuzt, schießt reflexhaft der Beschützerinstinkt<br />
hervor: Müssen wir<br />
uns um das Tier sorgen? Ist esvon<br />
der Herde verstoßen worden? Sollen<br />
wir die Polizei rufen?<br />
Es eigenhändig ins Gehege zu<br />
hieven, verhindert der zwei Meter<br />
hohe Zaun. Und obdas Reh selbst<br />
dieser Aktion gegenüber aufgeschlossen<br />
wäre, steht noch mal auf<br />
einem ganz anderen Blatt. Also bewegt<br />
es sich weiter entlang des<br />
Zauns, ziemlich unbeeindruckt von<br />
den Menschen, die eineinhalb Armlängen<br />
entfernt an ihm vorbeilaufen.<br />
Es scheint die Nähe zu seiner Herde<br />
jenseits der Umfriedung zu suchen,<br />
auch seine Artgenossen dort nehmen<br />
Kontakt auf –bis es ein paar<br />
Sätze macht, die kleinen Kinder, die<br />
freudig mit riesigen Grasbüscheln in<br />
den Händen zur Fütterung angelaufen<br />
kommen, achtlos links liegen<br />
lässt und in einer satten, naturbelassenen<br />
Wiese verschwindet.<br />
Die ist so hoch gewachsen, dass<br />
sich ein Blick auf das Reh nur noch<br />
erhaschen lässt, wenn es den Hals<br />
streckt und aus dem Gras auftaucht<br />
wie ein U-Boot-Periskop über der<br />
Wasseroberfläche.DasVersteck ist so<br />
gut, dass auch der zuständige Förster<br />
seine Mühe hat. Der Freigang soll<br />
nämlich kein Dauerzustand werden.<br />
Das Tier ließ sich –anders als anderesWild,<br />
das nach einer mutwilligen<br />
Beschädigung des Zauns entlaufen<br />
war –bislang einfach nicht einfangen.<br />
Während das Reh normale<br />
Menschen duldet, nimmt es Reißaus,sobald<br />
sich der zuständige Förster<br />
blicken lässt.<br />
So ein Reh lässt sich ziemlich schwer<br />
einfangen.<br />
IMAGO-IMAGES<br />
Sachen packen und los. Der Philip-Morris-Konzernwill die Produktion der ZigarettenmarkenMarlboro, Chesterfield und L&M in Neukölln einstellen.<br />
Der Cowboy geht<br />
Philip Morris will keine Zigaretten mehr in Berlin produzieren. Rund 1000 Arbeitsplätze sind betroffen<br />
VonKerstin Hense<br />
und Annika Leister<br />
Noch werden in der Neuköllnischen<br />
Allee Marlboro<br />
und Chesterfield<br />
produziert, doch damit<br />
soll ab 1. Januar 2020 Schluss sein:<br />
Der Konzern Philip Morris stellt die<br />
Produktion von Zigaretten in Berlin<br />
ein. 950 Mitarbeiter werden ihre Arbeitsplätze<br />
ganz verlieren. 25 Stellen<br />
werden nach Dresden und ins bayerische<br />
Gräfelfing ausgelagert, nur 75<br />
Mitarbeiter dürfen bleiben. Sie werden<br />
in Zukunft Volumentabak produzieren,<br />
ein Zwischenprodukt in<br />
der Zigarettenproduktion, mit dem<br />
andereFabriken beliefertwerden.<br />
Gut 1000 Industrie-Arbeitsplätze<br />
fallen kurzfristig weg. Dastrifft nicht<br />
nur die Mitarbeiter, sondern auch<br />
Berlin als Wirtschaftsstandort hart.<br />
In der Industrie arbeiten in der<br />
Hauptstadt nur noch 120 000 Arbeitnehmer.Seit<br />
derWende hat Berlin einer<br />
Studie des Deutschen Instituts<br />
für Wirtschaftsforschung aus dem<br />
Februar zufolge 70 Prozent seiner Industriejobs<br />
verloren. 2017 waren nur<br />
noch sechs Prozent der <strong>Berliner</strong> Beschäftigten<br />
in der Industrie tätig. In<br />
Gesamtdeutschland sind es 24,2<br />
Prozent. Als Grund sehen die Forscher<br />
auch, dass Senat und Bund die<br />
Industrie zu wenig geförderthaben.<br />
Im Fall von Philip Morris hat der<br />
plötzliche Personalabbau aber vor<br />
allem einen Grund: Es wird einfach<br />
nicht mehr genug klassische Zigarette<br />
geraucht, so der Konzern. Auch<br />
Philip Morris setzedeswegen auf die<br />
Entwicklung und Produktion von<br />
rauchfreien Alternativen, wie zum<br />
Beispiel sogenannten Heets, bei denen<br />
Tabak nur noch erhitzt, aber<br />
nicht mehr verbrannt wird. „Die Veränderung<br />
des Konsumentenverhaltens<br />
erfordert eine deutliche Reduzierung<br />
der Produktionskapazitäten“,<br />
teilte Mark Johnson-Hill, Vice<br />
President EU Manufacturing, mit.<br />
Zigarettenkonsum in Deutschland<br />
Angabe in Milliarden Stück<br />
150<br />
137,7<br />
120<br />
90<br />
60<br />
30<br />
0<br />
1997 '00 '02<br />
Philip Morris habe großen Respekt<br />
vor den Leistungen der Mitarbeiter,<br />
sagte der <strong>Berliner</strong> Werksleiter Sivain<br />
Pastoris. Und: „Wir setzen uns voll<br />
und ganz für einen sehr kooperativen<br />
und vertrauensvollen Prozess<br />
ein.“ Man wolle für die 950 betroffenen<br />
Mitarbeiter „faireund sozialverträgliche<br />
Lösungen“ vereinbaren. Ab<br />
nächster Woche sollen dazu Gespräche<br />
mit dem Betriebsrat stattfinden.<br />
DieMitarbeiter desWerkswurden<br />
erst am Dienstagmorgen auf einer<br />
Betriebsversammlung davon unterrichtet,<br />
dass die allermeisten vonihnen<br />
ihre Jobs verlieren. „Es kam für<br />
uns alle aus heiterem Himmel. Ich<br />
gehe jetzt nach Hause und muss das<br />
erst mal verarbeiten“, sagte ein Mitarbeiter,<br />
der anonym bleiben will,<br />
der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>.<br />
Tief enttäuscht zeigt er sich auch<br />
vom Umgang des Unternehmens<br />
mit seinen Angestellten: Bei der Betriebsversammlung<br />
sei ein großes<br />
Aufgebot an Security-Kräften anwesend<br />
gewesen. Offenbar habe man<br />
Angst vor Ausschreitungen gehabt,<br />
vermutet der Mann. „Wir haben uns<br />
gefühlt, als wären wir Schwerverbrecher.<br />
Traurig, wie mit langjährigen<br />
Mitarbeitern umgegangen wird“,<br />
sagte er. Nach seinen Angaben habe<br />
der Schweizer Vorstand des Unternehmens<br />
den Betriebsrat erst am<br />
Montagabend bei einem geheimen<br />
Treffen in einem Hotel von dem<br />
massiven Personalabbau im Werk<br />
unterrichtet. Viele andere Mitarbeiter<br />
wollen an diesem Tagnicht mit<br />
Journalisten reden. Sie verweisen<br />
auf strikte Vertragsauflagen:<br />
„Bitte<br />
haben Sie Verständnis.<br />
Wir dürfen dazu<br />
nichts sagen.“ Bis<br />
Montag soll das<br />
Werk vorerst geschlossen<br />
bleiben.<br />
Die <strong>Berliner</strong> Wirt-<br />
74,4<br />
'04 '06 '08 '10 '12 '14 '16 '18<br />
BLZ/HECHER; QUELLE: DEUTSCHES KREBSFORSCHUNGSZENTRUM, DESTATS<br />
schaftssenatorin Ramona<br />
Pop(Grüne) sagte der<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> am Dienstag,<br />
dass die geplanten Kündigungen bei<br />
Philip Morris bedauerlich seien.<br />
Wenn sich Unternehmen von Kernprodukten<br />
verabschiedeten und sich<br />
auf neue Produkte konzentrierten,<br />
bliebe das nicht ohne Folgen. Nun<br />
gehe es zuallererst um die betroffenen<br />
Mitarbeiter.„Das Unternehmen<br />
steht hier in besonderer Verantwortung.<br />
Ich erwarte, dass Philip Morris<br />
gemeinsam mit den Beschäftigten<br />
nach zukunftsfesten Lösungen<br />
sucht“, so Pop.<br />
BLZ/PAULUS PONIZAK<br />
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Christian Gräff, wirtschaftspolitischer<br />
Sprecher der CDU im Abgeordnetenhaus,<br />
ist das zu wenig. „Industriepolitisch<br />
ist diese Entscheidung<br />
eine Katastrophe für Berlin“,<br />
sagte er der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>. „Das<br />
muss Berlin erst mal kompensieren.“<br />
Gräff wirft dem Senat vor, sich<br />
nicht bemüht zu haben, die Produktion<br />
der neuen Heets nach Berlin geholt<br />
zu haben. „Philip Morris konzentriert<br />
sich ja auf neue Produkte.<br />
Da müsste sich der Senat eigentlich<br />
direkt ins Auto setzen“, so Gräff.<br />
„Wenn wir Zukunftsbranchen auch<br />
in der Industrieproduktion nach<br />
Berlin holen wollen, dann müssen<br />
wir darauf hinarbeiten und fördern.“<br />
Für kaum möglich hält diese<br />
Form der Einflussnahme der wirtschaftspolitische<br />
Sprecher der SPD,<br />
Frank Jahnke. Immer wieder –zuletzt<br />
im Fall Siemens und der Gasturbinen-Produktion<br />
–zeige sich, dass<br />
die Politik kaum Einfluss auf die Entscheidungen<br />
der Konzerne habe.Am<br />
Ende fielen die Entscheidungen<br />
aufgrund vonZahlen<br />
in „irgendeiner Konzern-Zentrale“,<br />
so<br />
Jahnke. „Das ist bei<br />
Philip Morris nicht<br />
anders.“ Das Unternehmen<br />
sei nun in<br />
der Pflicht, bei dem<br />
kurzfristigen Abbau<br />
für faire Bedingungen<br />
zu sorgen.<br />
Die <strong>Berliner</strong> Produktionsstätte<br />
Philip Morris Manufacturing<br />
GmbH an der Neuköllnischen Allee<br />
existiert seit 1972. Hier werden die<br />
Zigaretten-Marken Marlboro, Chesterfield<br />
und L&M hergestellt.<br />
In Deutschland geht der Absatz<br />
an Zigaretten schon seit Jahren zurück.<br />
Laut Statistischem Bundesamt<br />
sank die Anzahl der Raucher in<br />
Deutschland von 22,2 Millionen im<br />
Jahr 2000 auf 18,9 Millionen im Jahr<br />
2015; bis 2025 soll die Zahl auf 16,2<br />
Millionen fallen.<br />
NACHRICHTEN<br />
Anklage erhoben im Fall der<br />
vermissten Georgine<br />
Mehr als zwölf Jahrenach dem Verschwinden<br />
der vermissten Schülerin<br />
Georgine hat die Staatsanwaltschaft<br />
einen 44-Jährigen angeklagt. Ali K.<br />
werden Mord und Vergewaltigung<br />
vorgeworfen, teilte der Sprecher der<br />
Staatsanwaltschaft Martin Steltner<br />
am Dienstag mit. DieLeiche des<br />
Mädchens<br />
wurde bis heute<br />
nicht gefunden.<br />
DerAngeschuldigte<br />
soll die<br />
14-Jährige im<br />
September 2006<br />
auf dem Heimwegvon<br />
der<br />
Schule abgepasst<br />
und in einen<br />
Keller seiner<br />
REPRO/STICKFORTH<br />
Verschwunden:<br />
Georgine Krüger<br />
Wohnung in Moabit gelockt haben.<br />
Laut Anklage schlug er das Mädchen<br />
bewusstlos und vergewaltigte es.Aus<br />
Angst vorEntdeckung soll der Mann<br />
Georgine erwürgt und an einen unbekannten<br />
Ortgebracht haben. Der<br />
Verdächtige ist seit Dezember 2018<br />
in Untersuchungshaft. Er war bereits<br />
2013 wegen sexuellen Missbrauchs<br />
einer Jugendlichen im Keller seiner<br />
Wohnung zu einer Freiheitsstrafe<br />
voneinem Jahr und acht Monaten<br />
verurteilt worden. (BLZ)<br />
Bürgerinitiativen wollen<br />
weniger Autoverkehr<br />
Miteinem gemeinsamen Positionspapier<br />
zum „Rückbau der autogerechten<br />
Stadt“ wollen mehrereBürgerinitiativen<br />
den Druck auf die Politik<br />
erhöhen. Zentrale Forderungen<br />
sind unter anderem die Zuschüttung<br />
der beiden Straßentunnel in der<br />
Bundesallee und der Abriss der Autobahnbrücke,die<br />
seit den 70er-Jahrenden<br />
Breitenbachplatz verunstaltet.<br />
Dieautolastige Stadtplanung der<br />
Nachkriegsjahrzehnte habe dem Zusammenlebender<br />
Menschen geschadet,<br />
erklärten die Initiativen am<br />
Dienstag. DasBündnis setzt sich zusammen<br />
aus sechs Bürgerinitiativen<br />
in den Bezirken Charlottenburg-Wilmersdorf,<br />
Steglitz-Zehlendorfund<br />
Tempelhof-Schöneberg. (dpa)<br />
Wolf und Bluhm bleiben<br />
Linke-Fraktionschefs<br />
Diebeiden Vorsitzenden der Linke-<br />
Fraktion im Abgeordnetenhaus,Udo<br />
Wolf und Carola Bluhm, sind im Amt<br />
bestätigt worden. Dasteilte ein Sprecher<br />
nach einer Fraktionssitzung am<br />
Dienstag mit, bei der die Abgeordneten<br />
turnusmäßig den Fraktionsvorstand<br />
neu wählten. Wolf (56) ist seit<br />
2009 Fraktionschef. Bluhm (56) amtierte<br />
seit 1995 mit Unterbrechungen<br />
schon mehrmals als Fraktionsvorsitzende.Die<br />
Linke stellt mit 27 Abgeordneten<br />
eine der drei rot-rot-grünen<br />
Regierungsfraktionen. (dpa)<br />
Mord im Treptower Park:<br />
Verdächtiger gefasst<br />
DerMordaneinem 28-Jährigen im<br />
TreptowerParkist offenbar aufgeklärt.<br />
Polizisten nahmen am Montagabend<br />
in Rummelsburgeinen<br />
43-Jährigen fest. Er wirdverdächtigt,<br />
den Mann am 19. Maiindem Park<br />
getötet zu haben. Täter und Opfer<br />
gehören laut Polizei der Obdachlosenszene<br />
an. DasMordmotiv ist<br />
noch unklar.Haftbefehl gegen den<br />
Verdächtigen wurde beantragt. (ls.)