Berliner Zeitung 29.05.2019
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 123 · 2 9./30. Mai 2019 5· ·<br />
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Politik<br />
Nur in Ausnahmefällen<br />
Es besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Zugang zu Medikamenten zur Selbsttötung, urteilt das Bundesverwaltungsgericht<br />
VonChristian Rath, Leipzig<br />
Wer sich das Leben nehmen<br />
will, hat keinen<br />
Anspruch auf den Erwerb<br />
eines entsprechenden<br />
Medikaments. Das entschied<br />
das Bundesverwaltungsgericht<br />
(BVerwG) in Leipzig. Der Staat<br />
habe eine Schutzpflicht für das Leben.<br />
Die Kläger, Manfred und Irene<br />
von L., sind seit über 50 Jahren verheiratet.<br />
Er ist 82, sie 75 Jahrealt. Sie<br />
sind nicht krank, wollen aber nicht<br />
den eigenen körperlichen und geistigen<br />
Verfall miterleben. Stattdessen<br />
wollen sie gemeinsam das Leben beenden,<br />
solange sie es noch als„rundherum<br />
gelungen“ empfinden.<br />
Beim Bundesinstitut für Arzneimittel<br />
und Medizinprodukte<br />
(BfArM) beantragten sie bereits 2014<br />
die Genehmigung zum Erwerb von<br />
Die Kläger wollen nicht den eigenen körperlichen und geistigen Verfall miterleben.<br />
DPA<br />
Natriumpentobarbital, einem in der<br />
Schweiz gebräuchlichen schmerzlosen<br />
Suizid-Medikament. Doch das<br />
Amt lehnte die Genehmigung ab.<br />
DasBetäubungsmittelgesetz erlaube<br />
den Erwerb solcher Medikamente<br />
nur zu therapeutischen Zwecken,<br />
nicht zur Selbsttötung. Dagegen<br />
klagte das Ehepaar durch die Instanzen.<br />
In einem anderen Fall hatte das<br />
BVerwG 2017 schwer und unheilbar<br />
Kranken bei einer extremen Notlage<br />
Anspruch auf ein Suizid-Medikament<br />
gewährt.<br />
Detlef Koch, der Anwalt des Ehepaars,forderte<br />
in Leipzig eine Erweiterung<br />
dieser Rechtsprechung.<br />
„Auch wer nicht unheilbar krank ist,<br />
hat das Recht auf Selbstbestimmung“,<br />
sagte er. „Niemand will den<br />
Klägern das Recht auf ein selbstbestimmtes<br />
Lebensende nehmen“,<br />
sagte Markus Gottbehüt, der Vertreter<br />
des BfArM, „der Staat muss die<br />
Selbsttötung aber nicht unterstützen“.<br />
Der Staat dürfe auch kein Signal<br />
geben, dass Suizid und Weiterleben<br />
zwei gleichwertige Optionen<br />
seien. Vielmehr müsse der Staat gerade<br />
„vulnerable Personen“, davor<br />
schützen, dass Dritte auf sie Druck<br />
ausüben, bald aus dem Leben zu<br />
scheiden.<br />
Mehr als 100 Anträge<br />
Koch widersprach: „Den Klägern<br />
geht es nicht um staatliche Hilfe“,<br />
der Staat solle sie nur nicht an der<br />
Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts<br />
hindern. Es könne<br />
nicht sein, dass der Staat sie zwinge,<br />
in die Schweiz zu reisen oder sich vor<br />
einen Zug zuwerfen, um ihr Leben<br />
zu beenden. DerSchutz verletzlicher<br />
Personen könne im Rahmen des<br />
BfArM-Genehmigungsverfahrens<br />
durch eine gründliche Prüfung sichergestellt<br />
werden.<br />
Die Klage blieb aber auch beim<br />
Bundesverwaltungsgericht erfolglos.<br />
„Eine Genehmigung zum Erwerb<br />
von Natriumpentobarbital zum<br />
Zweck der Selbsttötung ist grundsätzlich<br />
ausgeschlossen“, sagte die<br />
Vorsitzende Richterin Renate Philipp.<br />
Sie bekräftigte zwar die Ausnahme<br />
für schwer und unheilbar<br />
Kranke, doch liege eine solche extreme<br />
Notlage hier gerade nicht vor.<br />
Anwalt Koch will nun Verfassungsbeschwerde<br />
einlegen. (Az.: 3C6/17)<br />
Beim BfArM waren nach dem Urteil<br />
von2017 über 100 Anträge auf Erwerb<br />
des Suizid-Medikaments eingegangen.<br />
Bisher wurden alle abgelehnt.<br />
Laut Gottbehüt konnte das<br />
Amt keine „extreme Notlage“ feststellen.<br />
22 Antragsteller sind inzwischen<br />
gestorben.<br />
„Ich frage mich, ob sie<br />
dem Amt gewachsen ist“<br />
Kommunikationsforscher Schweiger über die CDU-Chefin<br />
Wolfgang Schweiger ist Professor<br />
an der Universität Stuttgart-<br />
Hohenheim, Fachgebiet: Kommunikationswissenschaft,<br />
insbesondere<br />
interaktive Medien- und Onlinekommunikation.<br />
Die Attacke von<br />
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer<br />
auf Rezo und andere You-<br />
Tuber kritisierterdeutlich.<br />
Herr Schweiger, die CDU-Chefin hat<br />
mit Blick auf Rezo vonmöglichen Regeln<br />
für derartige Meinungsäußerungen<br />
gesprochen. Halten Siesolche Regeln<br />
für machbar?<br />
Nein, da kann ich mich nur dem<br />
Grundtenor des Internets anschließen:<br />
Das ist wirklich Quatsch. Wir<br />
haben Meinungsfreiheit nach Artikel<br />
fünf des Grundgesetzes. Sie umfasst<br />
auch YouTuber.<br />
Sie hat YouTuber mit <strong>Zeitung</strong>sredaktionen<br />
verglichen.<br />
Tatsächlich sind es<br />
Privatpersonen –nur eben<br />
Privatpersonen mit einer<br />
sehr großen Reichweite.<br />
Wie erklären Sie sich den<br />
Vergleich?<br />
Ich glaube, sie ist auf<br />
diese merkwürdige Idee<br />
gekommen, weil es in<br />
deutschen Medien keine<br />
Wahlempfehlungen gibt. Die sind in<br />
der Regel unabhängig und überparteilich.<br />
In den USA und anderen Ländern<br />
ist es völlig normal, dass Medien<br />
Wahlempfehlungen abgeben.<br />
Und eswäre auch in Deutschland<br />
nicht verboten. Es wirdhalt nur nicht<br />
gemacht. Das heißt für mich: Frau<br />
Kramp-Karrenbauer versteht wenig<br />
von Medien und Journalismus, sie<br />
versteht wenig von unserer Meinungsfreiheit<br />
und noch weniger davon,<br />
wie das Internet funktioniert.<br />
Disqualifiziertsie das für dieses Amt?<br />
Ich persönlich würde sagen: ja –<br />
auch wenn sie das sofort zurückgenommen<br />
hat und ich ihr glaube,dass<br />
sie das nicht im Sinne einer Beschränkung<br />
der Meinungsfreiheit<br />
gemeint hat. Trotzdem frage ich<br />
mich, ob sie dem Amt gewachsen ist.<br />
Wolfgang<br />
Schweiger<br />
Offensichtlich ist die CDU mit der<br />
neuen Online-Dynamik zuletzt nicht<br />
klar gekommen. Sie wusste nicht, in<br />
welchem Format sie auf Rezo reagieren<br />
und ob sie angreifen oder den<br />
Dialog suchen sollte. Waswürden Sie<br />
ihr denn raten?<br />
DenHohn und die Häme,die jetzt<br />
über der CDU ausgegossen werden,<br />
finde ich total übertrieben. Denn das<br />
ist nun mal ein sehr ungleiches Duell.<br />
Da kommt ein einzelner You-<br />
Tuber,den vorher wenige Menschen<br />
kannten, und macht ein einstündiges<br />
Video, das viral zumindest den<br />
Nerv der jungen Leute trifft: Wassoll<br />
denn eine Partei dagegen tun? Das<br />
ist ein ungleicher Wettbewerb, bei<br />
dem man zwangsläufig schlecht aussieht.<br />
Wasman aber keinesfalls hätte<br />
tun dürfen, ist, das Ganzenicht ernst<br />
zu nehmen oder an einzelnen Fakten,<br />
die Rezo zusammengetragen<br />
hat, rumzumäkeln. Denn natürlich<br />
kann man immer über einzelne Fakten<br />
streiten. Diese Reaktion war völlig<br />
kontraproduktiv.Und was auf keinen<br />
Fall hätte passieren dürfen, ist,<br />
dass man sagt: Der ebenfalls 26-jährige<br />
Philipp Amthor bereitet ein Gegenvideo<br />
vor, weil er auch 26 ist, und<br />
dann wirdesaus ominösen Gründen<br />
nicht veröffentlicht.<br />
Washätten Siegeraten?<br />
Das Sinnvollste wäre gewesen,<br />
wenn die CDU-Vorsitzende<br />
reagiert hätte mit<br />
den Worten: „Wir verstehen,<br />
was junge Menschen<br />
umtreibt, und wir wollen<br />
verstärkt daran arbeiten.“<br />
AN WINKLER<br />
Tatsächlich tritt die Digitalisierung<br />
der Politik ja in<br />
eine neue Phase ein. Neue<br />
Player stoßen in den öffentlichen<br />
Diskurs vor. Unddas<br />
MaßanGeschwindigkeit, das vonpolitischen<br />
Akteuren erwartet wird,<br />
scheint noch einmal zuzunehmen.<br />
Ichweiß nicht, ob Rezo eine neue<br />
Qualität bringt. Denn wir sehen ja<br />
schon seit Jahren eine neue Qualität<br />
mit neuen Nachrichtenquellen und<br />
alternativen Medien, mit großen<br />
Mengen an halb wahren Nachrichten<br />
bis hin zu Fake News und Verschwörungstheorien.<br />
Wir sehen insgesamt<br />
eine veränderte Form der<br />
Meinungsbildung in der Bevölkerung,<br />
bei der auch der direkte Austausch<br />
mit anderen Online-Nutzern<br />
eine große Rolle spielt. Wir sind also<br />
in einer sehr großen und schnellen<br />
Veränderungs-Dynamik. Das Beispiel<br />
Rezo ist deshalb so überraschend,<br />
weil es mal von der linken<br />
Seite kam. Bisher haben wir diese<br />
Veränderungen eher vonder rechten<br />
Seite gesehen. Auch konnte das so<br />
kurz vor der Wahl eine enorme Wirkung<br />
entfalten. Andererseits muss<br />
man sagen: DieCDU hatte schon ein<br />
paar Tage Zeit, darauf angemessen<br />
zu reagieren.<br />
Sie sehen keine Überforderung von<br />
Politik?<br />
In diesem Fall schon, insgesamt<br />
eher nicht. Mit solchen Situationen<br />
sollten demokratische Parteien umgehen<br />
können.<br />
DasGespräch führte Markus Decker.<br />
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