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Berliner Zeitung 20.07.2019

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12 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 166 · 2 0./21. Juli 2019<br />

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Berlin<br />

Harmsens Berlin<br />

Ich geh nicht in<br />

die Kapsel!<br />

Torsten Harmsen<br />

will nicht auf den Mars oder<br />

andere Planeten umgesiedelt<br />

werden.<br />

Ich mag den Sommer in Berlin. Ich<br />

erinneremich, dass ich als Kind jedes<br />

Wochenende unterwegs war, auf<br />

unserem Boot. Der Geruch vonWasser,Wald,<br />

unsereBadestelle am Schilf,<br />

die Laute von Ente und Blässhuhn,<br />

das Lüftchen am Abend, wenn die tief<br />

stehende Sonne einen goldenen Glitzerteppich<br />

auf dem Wasser ausbreitete<br />

–sohaben sich die Sommertage<br />

in meiner Erinnerung eingebrannt.<br />

Zumindest die schönen.<br />

Undnun wirdandiesemWochenende<br />

der 50. Jahrestag des Mondlandungs-Abenteuers<br />

gefeiert. Was das<br />

mit Berlin und seinen Sommern zu<br />

tun hat? NurGeduld!<br />

In Filmen und Texten zum Jahrestag<br />

stoße ich immer wieder auf die<br />

Idee, dass der Mond ein Sprungbrett<br />

für die Besiedelung des Weltalls sein<br />

könnte. Von dort aus könnte der<br />

Mensch zum Mars fliegen, dann weiter<br />

zu anderen Planeten. Der Astrophysiker<br />

Stephen Hawking, selbst unrettbar<br />

an den Rollstuhl gefesselt, verkündete<br />

noch kurz vor seinem Tode:<br />

„Die Menschheit ist verloren, wenn<br />

wir nicht die Erde verlassen.“<br />

Haben wir nicht gerade selbst mit<br />

Schrecken festgestellt, dass sich die<br />

Sommertemperaturen in Berlin<br />

schon der 40-Grad-Marke nähern?<br />

Also nichts wie weg! Andere Welten<br />

suchen! Unsretten!<br />

„Soein Quatsch!“, ruft mein innerer<strong>Berliner</strong>.„Wozu<br />

soll ick’n hier wegfliejen?<br />

Wejen die Extremtemperaturen<br />

inne Stadt? Ickhab gleich mal jekiekt.<br />

Uffm Mond zum Beispiel unterscheiden<br />

sich die Temperaturen<br />

zwischen Tach und Nacht um 290<br />

Grad. Da kann ick nur saren: fröhlichet<br />

Zelten! Für so’n 130 Grad heißen<br />

Sommertach musste schon ’ne<br />

FlascheWasser mehr einpacken. Und<br />

für de Nacht ’ne Wolldecke. Minus<br />

160 Grad –brrrr.<br />

Und uffm Mars? Watsoll ick da?<br />

Immer jammernsewejen den Klimawandel<br />

uff de Erde. Uffm Mars haste<br />

Staubstürme mit 400 Kilometern pro<br />

Stunde! Dajejen is’n Hurrikan een<br />

kleenet Pups-Lüftchen. Und die Atmosphäre?<br />

96 Prozent Kohlendioxid!<br />

So ’ne ekelhafte Umjebung kriegste<br />

uff de Erde jar nicht hin. Da muss der<br />

Ami schon noch ’n paar Runden<br />

mehr mit seinem qualmijen Truck<br />

drehn. Im Raumanzuch rumloofen<br />

und im luftdichten Iglu wohnen kann<br />

ick notfalls ooch uff de Erde. Da<br />

brauch ick keen Mars für.“<br />

Da hat er recht, mein innerer <strong>Berliner</strong>.<br />

Übrigens, der nächste möglicherweise<br />

bewohnbare Planet, von<br />

dem wir aber bisher nur ein paar wackelige<br />

Daten kennen, ist gut vier<br />

Lichtjahre entfernt –40Billionen Kilometer.Erheißt<br />

Proxima Centauri b.<br />

Werjetzt schon mal losfliegt, ist vielleicht<br />

in siebzigtausend Jahren da.<br />

Gute Reise! Undviel Spaß bei der Umsiedlung<br />

„der Menschheit“, von der<br />

so mancher träumt!<br />

Wie? Moment, es können gar nicht<br />

alle mitkommen? Wonach will man<br />

dann aber die Mitreisenden aussuchen?<br />

Nach dem, was sie auf dem<br />

Konto haben? Undwie will man den<br />

Rest davon abhalten, die Raumschiffe<br />

zu stürmen? Nurmal so gefragt. Hawking,<br />

der geniale Astrophysiker,hatte<br />

offenbar nicht die Fantasie dazu.<br />

Ihrgroßen Planer,Stifter und Denker,setzt<br />

doch einfach das ganzeGehirnschmalz<br />

und die Milliardensummen<br />

für den Verbleib der Menschen<br />

auf unserer Erde ein! Und nicht für<br />

ihre aussichtslose Flucht. Erforscht<br />

den Weltraum, aber verbreitet keine<br />

falschen Hoffnungen!<br />

Undwas Berlin betrifft: Ich brauche<br />

den blauen, bewölkten oder pieselig-grauen<br />

Himmel über dieser<br />

Stadt. Ichbrauche grüne Bäume,den<br />

Geruch von Regen und das goldene<br />

Geglitzer auf dem Wasser an Sommerabenden.<br />

Mich kriegt man nicht<br />

in so eine Raumkapsel!<br />

Im Herbst 1989 wurden in Ost-<br />

Berlins Mitte mal wieder Gleise<br />

der Straßenbahn repariert. Ein<br />

Schienenersatzverkehr mit<br />

Bussen war eingerichtet worden. Mit<br />

den üblichen Folgen: überfüllte und<br />

verspätete Busse, schimpfende <strong>Berliner</strong><br />

an den Haltestellen. An der<br />

Kreuzung Moll-/Hans-Beimler-<br />

Straße (heute Otto-Braun-Straße)<br />

kochte dabei die Volksseele besonders<br />

hoch, spielte sich dortdoch allmorgendlich<br />

zur gleichen Zeit dasselbe<br />

Schauspiel ab.<br />

Nur wenige Meter neben der<br />

überfüllten SEV-Haltestelle hielt ein<br />

fast leerer Ikarus-Bus mit verhängten<br />

Scheiben. Die wenigen dort zusteigenden<br />

Männer und Frauen hatten<br />

sich zuvor schon auf dem Gehwegauffallend<br />

separiertvon der ungeduldigen<br />

Menge, die auf den<br />

Ersatzbus der <strong>Berliner</strong> Verkehrsbetriebe<br />

(BVB) wartete.Dass die in den<br />

geheimnisvollen Bus einsteigenden<br />

Fahrgäste dem Fahrer keine Fahrkarte<br />

zeigten, sondern ihm einen<br />

Klappausweis hinhielten, steigerte<br />

noch die Wut der Wartenden. Denn<br />

mit solchen Klappausweisen, das<br />

wusste jeder in der DDR, waren die<br />

Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes<br />

ausgerüstet.<br />

Im Stasiunterlagenarchiv kann<br />

man jetzt die mehr als zweitausend<br />

Seiten umfassenden Akten über ein<br />

weitgehend unbekanntes Kapitel<br />

des MfS einsehen –den sogenannten<br />

Berufslinienverkehr des Geheimdienstes.<br />

Als Berufslinienverkehr<br />

(BLV) definierte die Stasi „alle<br />

Beförderungen von Mitarbeitern<br />

(einschließlich Angehörige mit<br />

Kleinkindern)…, die mit KOM<br />

(Kraftomnibussen –d.Red.) des MfS<br />

planmäßig zu festgelegten Zeiten auf<br />

festgelegten Strecken von und zum<br />

Dienst zu bestimmten Dienstobjekten<br />

und zurück durchgeführt werden“.<br />

Auf zuletzt 50 Linien mit einer<br />

Streckennetzlänge von insgesamt<br />

mehr als 1500 Kilometern verkehrten<br />

die in Ungarn produzierten Ikarus-Busse<br />

der Stasi jeden Werktag im<br />

Ostberliner Stadtgebiet und darüber<br />

hinaus. Erkennen konnte man Mielkes<br />

Busflotte an einem postkartengroßen<br />

Pappschild, das hinter der<br />

Die Busse der anderen<br />

Während die Ost-<strong>Berliner</strong> an den BVB-Haltestellen auf volle Fahrzeuge warteten,<br />

leistete sich die Stasi einen eigenen Berufslinienverkehr.50Busse brachten die<br />

Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes zur Arbeit und wieder zurück. Sogar in<br />

West-Berlin gab es Haltestellen<br />

VonAndreas Förster<br />

Windschutzscheibe angebracht war<br />

und die Aufschrift trug: „Berechtigungsschein<br />

KOM-Linie G“.<br />

Die ausschließlich im Berufsund<br />

Feierabendverkehr fahrenden<br />

G-Busse,die es auch in anderen Bezirksstädten<br />

der DDR gab, waren<br />

ebenso bekannt wie verhasst. Hatte<br />

man ihre Existenz allerdings lange<br />

Zeit noch zähneknirschend und mit<br />

der Faust inder Tasche hingenommen,<br />

änderte sich das im Laufe des<br />

Jahres 1989 mit der zunehmenden<br />

Verbitterung über die Zustände in<br />

der DDR spürbar. Darüber beklagte<br />

sich Anfang November 1989 auch<br />

ein hochrangiger Offizier der Stasi-<br />

Hauptabteilung Personenschutz,<br />

deren Mitarbeiter damals täglich an<br />

der oben erwähnten Haltestelle in<br />

Mitte angefeindet wurden. „Die<br />

Leute sehen, dass unsere Busse nur<br />

mit teilweise wenigen Genossen besetzt<br />

sind, zum anderen bekommt<br />

man mit, dass beim Einsteigen der<br />

Dienstausweis gezeigt und somit erkannt<br />

wird, um welche Busseessich<br />

dabei handelt“, schrieb Oberstleutnant<br />

Laufer in einem Vermerk und<br />

klagte:„Es fallen dabei abwegige Bemerkungen.“<br />

Sein Vorschlag: Entweder<br />

die SEV-Haltestelle verlegen<br />

oder den Haltepunkt der Stasi-<br />

Busse.<br />

Bereits in den 60er-Jahren hatten<br />

einzelne Stasi-Abteilungen damit<br />

begonnen, ihreMitarbeiter mit eigenen<br />

Bussen zu ausgewählten Dienstobjekten<br />

zu transportieren. Die<br />

Fahrtziele lagen dabei meist außerhalb<br />

der Stadt. Aber statt einen<br />

Shuttleservice von der letzten S-<br />

Bahn-Station einzurichten, wollte<br />

das MfS den eigenen Genossen offenbar<br />

eine zu große Volksnähe in<br />

den stets überfüllten Bussen und<br />

Bahnen der BVB im Berufsverkehr<br />

ersparen. Deshalb wurden die<br />

Tschekisten bereits an ausgewählten<br />

Haltepunkten in der Stadt eingesammelt.<br />

Diese Haltestellen befanden<br />

sich meist in der Nähe zentraler<br />

Wohnobjekte des Dienstes –etwa in<br />

Johannisthal, am Leninplatz (heute<br />

Platz der Vereinten Nationen), im<br />

Lichtenberger Hans-Loch-Viertel<br />

und am Tierpark sowie in den Neubaugebieten<br />

in Hohenschönhausen,<br />

Marzahn und Hellersdorf.<br />

Die 1970 einsetzenden Bestrebungen<br />

im MfS, den BLVzuzentralisieren<br />

und eine Art diensteigenen<br />

Busbetrieb einzurichten, scheiterte<br />

bis zum Ende der Stasi am Widerstand<br />

der beteiligten Hauptabteilungen,<br />

die den Berufsverkehr ihrer Mitarbeiter<br />

lieber in eigener Regie fortführen<br />

wollten. Selbst der Vorschlag,<br />

die Busse könnten doch Angehörige<br />

mehrerer Diensteinheiten befördern,<br />

wenn deren Fahrtziel – wie<br />

etwa der OrtGosen bei Berlin, wo es<br />

Dienst- und Ausbildungsobjekte<br />

mehrerer Abteilungen gab –das gleiche<br />

ist, stieß auf taube Ohren. Jede<br />

Abteilung wollte ihreeigene Linie für<br />

sich behalten.<br />

Einer Aufstellung aus dem Februar<br />

1986 zufolge betrieben zu dieser<br />

Zeit ein Dutzend Stasi-Abteilungen<br />

insgesamt 50 Buslinien in Berlin<br />

und Umgebung. Eingesetzt waren<br />

überwiegend Ikarus-Busse der Typreihen<br />

256 (Reisebus) und 280 (dreiachsiger<br />

Zuggelenkbus). In Einzelfällen<br />

verkehrten auch Kleinbusse<br />

Eine BVB-Halstestelle an einem<br />

Werktag.Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes<br />

mussten hier<br />

nicht warten. Das MfS hatte ein<br />

eigenes Streckennetz und eigene<br />

Busse.<br />

BERLINER-VERKEHRSSEITEN.DE<br />

vom Typ Barkas. Jeden Werktag absolvierten<br />

die Stasi-Busse insgesamt<br />

150 Fahrten.Wieviele Mitarbeiter sie<br />

dabei transportierten, darüber gibt<br />

es keine Angaben. Schätzungsweise<br />

dürfte es sich um mehr als 10 000<br />

Fahrgäste pro Tag gehandelt haben,<br />

da in den Unterlagen voneinem Auslastungsgrad<br />

der Linien zwischen 80<br />

und 100 Prozent gesprochen wird.<br />

Die meisten Busse auf jeweils<br />

acht Linien verkehrten für die<br />

Hauptabteilung Personenschutz<br />

(HA PS) und das Wachregiment. Die<br />

Personenschützer gelangten so aus<br />

Berlin zur Wohnsiedlung der SED-<br />

Spitze inWandlitz und zum zentralen<br />

Ausbildungscamp in Kallinchen;<br />

die OffizieredesWachregiments fuhren<br />

in die Kasernen in Adlershof,<br />

Erkner und Teupitz. Auf insgesamt<br />

sieben Buslinien gelangten Mitarbeiter<br />

der bei Stasi-Minister Mielke<br />

angesiedelten Spezialbauabteilung<br />

täglich zum Regierungsbunker in<br />

Prenden und zu unterirdischen Anlagen<br />

in Bernau. Eine Buslinie weniger<br />

betrieb die Auslandsspionageabteilung<br />

HVA, die ihre Kader erst an<br />

mehreren Haltepunkten in Ostberlin<br />

einsammelte und dann zu den Ausbildungseinrichtungen<br />

in Gosen<br />

und Belzig sowie nach Zeesen und<br />

Wernsdorf fuhr. Auch die Lauschabteilung<br />

III schaffte Mitarbeiter in eigenen<br />

Bussen von Berlin in die<br />

Dienstobjekte Gosen und Biesenthal.<br />

WeitereBuslinien betrieben die<br />

Hauptabteilungen Kader und Schulung,<br />

VI (Grenzverkehr und Tourismus),<br />

XI (Chiffrierdienst) und XXII<br />

(Terrorabwehr) sowie VRD und Operativ-Technischer<br />

Sektor.<br />

Hinzu kam noch eine weitere Linie,<br />

die werktäglich jeweils um 6.20<br />

und 7.20 UhramAlexanderplatz begann<br />

und Mitarbeiter in die MfS-<br />

Zentrale an der Lichtenberger Normannenstraße<br />

schaffte. Die Busse<br />

hielten am Leninplatz, im Weidenweg<br />

auf Höhe des U-Bahnhofs<br />

Marchlewskistraße (heute Weberwiese),<br />

vor dem Blumenladen am S-<br />

Bahnhof Frankfurter Allee sowie an<br />

der Ecke Fanninger-/Siegfriedstraße.<br />

Zurück ging es in entgegengesetzter<br />

Richtung jeweils um 17.15<br />

und 19 Uhr.<br />

Wasbis heute kaum bekannt ist –<br />

auch nach West-Berlin verkehrten<br />

regelmäßig Stasi-Busse. Fünf Linien<br />

gab es,auf denen die Mitarbeiter der<br />

jenseits der Mauer eingerichteten<br />

Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten<br />

(BfBR) zu ihren Arbeitsstellen<br />

gelangten. In diesen auch<br />

„Passierscheinbüros“ genannten<br />

Einrichtungen, in denen Westberliner<br />

Einwohner einen Tagesbesuch<br />

im Ostteil der Stadt oder in der DDR<br />

beantragen konnten, arbeiteten Senatsmitarbeiter<br />

Seite an Seite mit<br />

Beamten aus Ostberlin. Letzteregalten<br />

offiziell als Mitarbeiter des DDR-<br />

Ministerrats,waren aber in Wahrheit<br />

SABETH STICKFORT (2)

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