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Berliner Zeitung 20.07.2019

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20./21. JULI 2019 7<br />

Vor fünfzig Jahren betrat das erste<br />

Malein Mensch den Mond. DieAktion<br />

wurde damals liveübertragen.<br />

Ein Fünftel der Weltbevölkerung<br />

sah zu. Ich gehörte damals nicht dazu. Ich<br />

war an der Amalfiküste bei meiner neapolitanischen<br />

Familie und bereitete mich auf die<br />

Zeugung meines Sohnes vor.<br />

Als ich mir vorein paar Tagen aufYouTube<br />

die Sendung von damals im Großraumbüro<br />

anschaute,umgeben vonarbeitenden Kolleginnen<br />

und Kollegen, schlief ich dabei ein.<br />

Stundenlang passierte nichts! Nichts im<br />

Weltraum, nichts in Houston und auch<br />

nichts im Apollo-Studio in Köln. Niemals gab<br />

es im Deutschen Fernsehen eine langweiligere<br />

Sendung als die von der ersten Mondlandung.<br />

Spannung ist eine Sache der Einbildungskraft.<br />

Meine reicht offenbar nicht über<br />

Hitchcock hinaus. Der erhabene Gedanke,<br />

dass ich dabei sein würde,wenn die Menschheit<br />

den gewaltigen Schritt auf den Mond<br />

machen würde, half mir fünfzig Jahre nach<br />

dem Ereignis nicht über Stunden und Stunden<br />

der Ödnis hinweg. Vielleicht wäreesdamals<br />

anders gewesen. Live. Aber sicher bin<br />

ich mir nicht. Ichwar schließlich ein Produkt<br />

der Konsumgesellschaft, eines der Kinder<br />

vonKarl Marx und Coca-Cola.<br />

Aber bei Karl Marx braucht man doch<br />

auch einen langen Atem, werfen Sie ein.<br />

Richtig, aber wir, seine Kinder, waren sehr<br />

kurzatmig. Wir mochten zwar gerade den<br />

„langen Sommer der Theorie“ durchleben,<br />

aber wir rannten auch von Demo zu Demo:<br />

Vietnam, Notstandsgesetze, Franco, Streiks,<br />

Institutsbesetzungen, Rote-Punkt-Aktion,<br />

Sit- und Teach-ins.Instant-Befriedigung pur.<br />

SOWEIT ICH MICH ERINNERE, gab es an keiner<br />

Universität auch nur einziges Teach-in<br />

einer der revolutionär gesinnten Studentengruppen<br />

zur Mondlandung. Gut, es waren<br />

Semesterferien. Im Sommer lag der Strand<br />

nicht mehr unter dem Pflaster.Wir lagen auf<br />

ihm. Ichkann mich nicht an Gespräche während<br />

der Ferien über die Mondlandung erinnern.<br />

Aber das sagt wahrscheinlich mehr<br />

über mein Gedächtnis als über das Geschehen<br />

vondamals.<br />

Dabei war ein Menschheitstraum wahr<br />

geworden. Der von den 68ern sogerne beschworene<br />

„Geist der Utopie“ –hier war er<br />

realisiert. DieMondlandung zeigte,wozuder<br />

Mensch fähig ist. Es gab wohl keinen 68er,<br />

den das nicht begeisterte.Die Mondlandung<br />

bestärkte uns in unserem Gefühl, im Übergang<br />

zu leben. Im Übergang zu einer großen<br />

Befreiung. Wir hatten gelernt, die Erde, den<br />

blauen Planeten, von außen zu sehen. Die<br />

Utopie der einen Menschheit, der einen<br />

Welt, schien zum Greifen nah.<br />

Die Mondlandung war ein weiterer Beleg<br />

dafür,dass alles bereit war für die Übernahme.<br />

Die Hunderte dort imRaumfahrtcenter<br />

in Houston, die Wissenschaftler im<br />

Studio –das waren die vonuns zu befreienden<br />

Produktivkräfte. Sie waren, so schlau<br />

sie sein mochten, gefangen in einer Ideologie,die<br />

ihnen zwar erlaubte,Menschen auf<br />

den Mond zu befördern, aber sie verwehrte<br />

ihnen auch, das Einfache zu tun, das<br />

schwer zu machen ist. So nannte Brecht<br />

den Kommunismus.<br />

So sahen viele von uns auf die Mondlandung.<br />

Es war, dawaren wir, aus den Ferien<br />

heimgekehrt, ganz eins mit Neil Armstrong<br />

und der Nasa, ein großer Schritt für die<br />

Menschheit. Aber verglichen mit dem großen<br />

Sprung in den Sozialismus erschien die<br />

Mondlandung dann doch ein eher kleiner<br />

Schritt zu sein. Das musste er wohl, weil er<br />

innerhalb des Systems, des von Adorno so<br />

genannten Verblendungszusammenhangs,<br />

verblieben war. Die Mondlandung war so –<br />

streng betrachtet –doch nur die Erfüllung eines<br />

rein technologischen Traumes, ein Ne-<br />

Buzz Aldrin auf dem Mond: In seinem Helmvisier spiegeln sich Neil Armstrong und die Mondfähre.<br />

benprodukt der von unseren Theorielieferanten<br />

geschmähten instrumentellen Vernunft.<br />

Im Jahr zuvor –1968 –war Jürgen Habermas’„Technik<br />

und Wissenschaft als ,Ideologie‘“<br />

erschienen. Darin wurde die „Wissenschaft“<br />

als zentrale Produktivkraft des Spätkapitalismus<br />

herausgearbeitet. Damit wurde<br />

den Studenten und der Studentenbewegung<br />

eine wichtige Rolle bei der Entfaltung der<br />

neuen gesellschaftlichen Konflikte zugesprochen.<br />

Sie traten ein wenig an die Stelle,<br />

die in der Marx’schen Theorie das Proletariat<br />

eingenommen hatte. Das schmeichelte uns.<br />

Ganz unabhängig davon, ob wir Habermas’<br />

Analyse zustimmten.<br />

Die Utopie<br />

der einen Welt<br />

Die 68er und die Mondlandung: Ein sehr persönlich geratener Blick auf<br />

die Liebe jener Jahre zu den großen Schritten der Menschheit, über denen<br />

die kleinen Schritte für die Menschen nur zu oft übersehen werden<br />

VonArnoWidmann<br />

Die Mondlandung war von einer derart<br />

gewaltigen Faktizität, dass aus dem Habermas’schen<br />

Buch ein Bestseller wurde. Der<br />

Nachweis, dass Technik und Wissenschaft<br />

selbst zu einer Ideologie geworden waren,<br />

die half, das in ihnen gelegene Potenzial an<br />

seiner Entfaltung zu hindern, bestärkte die<br />

Zweifel an ihrer Bedeutung. Die Produktionsverhältnisse<br />

knebelten selbst hier –man<br />

merkte es daran, wie sie unser Bewusstsein<br />

benebelten –die nur scheinbar überschießenden<br />

Produktivkräfte.<br />

DieMondlandung war ein Werk der Nasa.<br />

Das war auch den geschulten Dialektikern<br />

unter den 68ern fast ein wenig zu viel Ironie<br />

der Geschichte. Man sah förmlich, wie die<br />

NASA<br />

Muskeln des zu befreienden Titanen sich<br />

spannten unter den Fesseln des militärischindustriellen<br />

Komplexes. Nein, man sah das<br />

nicht. So sehr man es auch wollte. Eswar<br />

vielmehr klar, dass niemand sonst auf der<br />

Welt die hier sich äußernden Produktivkräfte<br />

so entfesseln konnte wie diese Herzschlagader<br />

des amerikanischen Imperialismus. Wir<br />

wussten das.Daher kam unsereAmbivalenz<br />

dem ganzen Unternehmen gegenüber.<br />

Die Mondlandung war ein Produkt des<br />

Kalten Krieges.John F. Kennedy hatte am 25.<br />

Mai 1961 der Sowjetunion den Fehdehandschuh<br />

„bemannte Mondlandung“ vor die<br />

Füße geworfen. Die USA waren fest entschlossen,<br />

den sowjetischen Vorsprung in<br />

der Raumfahrt einzuholen, ja die Sowjetunion<br />

zu überholen.<br />

Der erste künstliche Satellit (Sputnik, 4.<br />

Oktober 1957) war ein russischer gewesen.<br />

DieHündin Laika war das erste Lebewesen im<br />

All (3. November 1957) und Juri Gagarin der<br />

erste Mensch (12. April1961) dort. DasWeltall<br />

schien zum entscheidenden Zankapfel im<br />

Wettkampf der Systeme geworden zu sein. Jedenfalls<br />

war klar:Solange die Sowjetunion dabei<br />

die Nase vorn hatte, hatte sie den Kalten<br />

Krieg nicht verloren. Der Prestigewert ihrer<br />

politischen oder militärischen Erfolge oder<br />

Misserfolge in Ländern der –damals sagte<br />

man so –Dritten Welt spielte im Vergleich<br />

dazu eine geringe Rolle.Dennoch: DieSowjetunion<br />

ließ den Fehdehandschuh liegen.<br />

Die Menschheit war in die Epoche des<br />

Weltraumzeitalters eingetreten. Sie bewegte<br />

sich in einem völlig neuen Medium. Eines<br />

auch, in dem sie sich nicht in die Augen blicken<br />

kann. DerPhilosoph Hans Blumenberg<br />

schrieb: „Wegen der starken Einstrahlung<br />

der Sonne sind die Fenster des Helms goldverspiegelt,<br />

erlauben den Ausblick, aber<br />

nicht den Einblick ... Der erste Mensch auf<br />

dem Mond hat den zweiten fotografiert, und<br />

anstelle jeder Identifizierbarkeit der erfassten<br />

Person am Gesicht oder gar der Wahrnehmbarkeit<br />

ihres Erlebnisses dieses großen<br />

Augenblicks an ihrem Ausdruck, erblickt<br />

man das kopfgroße Fenster,inwelchem sich<br />

der Fotograf mit seiner Kamera–physiognomisch<br />

ebenso wenig identifizierbar und<br />

ebenso unergiebig –wie auch der Schatten<br />

des Fotografierten spiegeln.“ Auch 384 000<br />

Kilometer entfernt sehen wir immer noch<br />

nur „wie in einem Spiegel“.<br />

UMSO DRÄNGENDER WAR die soziale, die<br />

politische Revolution. Die doch helfen<br />

sollte,dass wir endlich einander vonAngesicht<br />

zu Angesicht sehen würden. Noch<br />

sprach niemand von einem SDI-Programm,<br />

aber die Vorstellung, dass Ost und<br />

West von Weltraumstationen aus auf einander<br />

schießen könnten, war sofort da. So<br />

etwas durfte es nicht geben. Ohne Systemwechsel<br />

in Ost und West hatte die Menschheit<br />

keine Chance.<br />

Es eilte. Man rechnete mit einer schnellen<br />

Eskalation des Weltraumwettkampfes.<br />

Niemand war 1969 auf die Idee gekommen,<br />

dass schon 1972 wieder Schluss sein würde<br />

mit den bemannten Mondlandungen und<br />

dass insgesamt gerade mal zwölf Menschen<br />

–alles weiße, amerikanische Männer<br />

–den Boden des Erdtrabanten betreten<br />

würden. Aufdie Gründe für das frühe Ende<br />

der bemannten Flüge möchte ich hier<br />

nicht eingehen. Also kein Wort über all die<br />

gescheiterten Versuche.<br />

Vielleicht aber hat das Ende der bemannten<br />

Mondfahrtdazu beigetragen, uns aus der<br />

Ideologisierung des wissenschaftlich-technischen<br />

Fortschritts herauszuhelfen. So faszinierend<br />

der Anblick der den Mond betretenden<br />

Menschen war,sogroßartig die technische,logistische<br />

Leistung, so richtig war es<br />

doch sie infrage zu stellen. Sowohl systemimmanent<br />

sie einer Kosten-Nutzen-Analyse<br />

zu unterziehen, als auch das Moment an Superman-Gehabe,<br />

anKraftprotzerei darin zu<br />

befragen. Bei der Mondlandung zeigte sich<br />

der Mensch als Beherrscher von Gesellschaft,<br />

Natur und Kosmos.<br />

Dasstellten die 68er damals nicht infrage.<br />

Genau das war ja ihr Konzept. Sie wollten<br />

mehr davon, nicht weniger. Das änderte<br />

sich, sie selbst überraschend, schnell. Als die<br />

Mondlandungen 1972 eingestellt wurden, da<br />

spielten die 68er keine Rolle mehr. Anihre<br />

Stelle war die Alternativbewegung getreten.<br />

Der große Schritt für die Menschheit hatte<br />

deutlich an Faszination verloren. Umso<br />

wichtiger waren –auch in den Augen der<br />

einstigen 68er –die kleinen Schritte für die<br />

Menschen geworden.<br />

RÜCKBLICK VON ARNO WIDMANN<br />

Sonnen- und<br />

Mondfinsternisse<br />

28. Mai 585 v. Chr.<br />

Sonnenfinsternis: Eine Sonnenfinsternis<br />

kommt zustande,weil der Mond so zwischen<br />

Erde und Sonne steht, dass letztereteilweise<br />

oder ganz verdeckt wird. Thales von Milet<br />

soll als erster die totale Sonnenfinsternis<br />

vom 28. Mai 585 v. Chr. vorausgesagt haben.<br />

Dasist aber eine Legende.Dazu war die Wissenschaft<br />

damals weder in Babylonien noch<br />

in Milet in der Lage.<br />

2. September 172 v. Chr.<br />

Mondfinsternis: Während einer Mondfinsternis<br />

durchquert der Mond den Schatten,<br />

Der Makedone Perseus unterwirft<br />

sich dem römischen Sieger. WIKIPEDIA<br />

den die von der Sonne beleuchtete Erde in<br />

den Weltraum wirft. Sulpicius Galus, die<br />

rechte Hand des römischen Oberkommandierenden<br />

Paullus Macedonicus, soschreibt<br />

Cicero, konnte anläßlich der Mondfinsternis<br />

vom2.September 172 v. Chr.–das Datum ist<br />

umstritten – vor der Schlacht bei Pydna,<br />

durch astronomischesWissen die römischen<br />

Soldaten beruhigen und zum Sieg führen.<br />

7. April 30<br />

Sonnenfinsternis: Die rund dreistündige<br />

Finsternis bei der Kreuzigung Jesu Christi,<br />

vonder in der Bibel im Neuen Testament berichtet<br />

wird, kann keine Sonnenfinsternis<br />

gewesen sein. Denn alle vier Evangelien<br />

stimmen darin überein, dass Jesus am 14.<br />

oder 15. des jüdischen Monats Nisan gekreuzigt<br />

wurde; zu diesem Termin aber ist eine<br />

Sonnenfinsternis unmöglich, da im jüdischen<br />

Kalender um die Monatsmitte Vollmond<br />

war, nicht der für eine Sonnenfinsternis<br />

erforderliche Neumond.<br />

Christus am Kreuz. Gemälde von<br />

Albrecht Dürer,1506. IMAGO IMAGES<br />

Und am 29. Juli 1969 in der<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong><br />

Apollo 11: „Die Sowjetmenschen schätzen<br />

sowohl den Mut der amerikanischen Kosmonauten<br />

als auch die Errungenschaften<br />

von Wissenschaft und Technik der USA,<br />

die ,Apollo 11‘ geschaffen haben, hoch<br />

ein“, schreibt die Prawda. „Jedoch man<br />

versucht den Weltruhm Armstrongs, Aldrins<br />

und Collins' im Interesse derer auszunutzen,<br />

die den schmutzigen Krieg in<br />

Vietnam entfesselten und führen, die den<br />

israelischen Aggressoren helfen und die<br />

Bonner Revanchisten unterstützen ...“<br />

Die Prawda verweist darauf, dass in den<br />

USA für das laufende Finanzjahr für die<br />

Erforschung des Kosmos 3,8 Milliarden<br />

Dollar vorgesehen sind, für Militärausgaben<br />

aber fast das 22-fache dieser Summe –<br />

81,5 Milliarden Dollar. Allein für die Fortführung<br />

der Aggression in Vietnam verbrauchen<br />

die Vereinigten Staaten jeden<br />

Monat rund drei Milliarden Dollar.

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