GSa147_190822-Web-Einzelseiten
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Der Weg in die Zukunft<br />
Reinhard Stähling<br />
Wieso Schulen ohne Brüche<br />
von Jahrgang 1 bis 10?<br />
Viele Lehrerinnen und Lehrer wissen nicht, wie sie allen Kindern in ihrer Klasse<br />
gerecht werden können. Sie möchten ihnen Halt geben, stoßen aber an ihre<br />
Grenzen. Sie haben z. B. einen Jungen in ihrer Klasse, der einen Erwachsenen<br />
für sich alleine braucht, jemanden, auf den er sich auf lange Sicht verlassen<br />
kann. Die Klassenwiederholung oder das »Abschieben« in Sonderschulen erleben<br />
sie als eine pädagogische Bankrott-Erklärung.<br />
Sie spüren, dass Lern- oder Verhaltensprobleme<br />
des Jungen in<br />
»weiterführenden« Schulen oder<br />
einer so genannten »Förderschule«<br />
nicht verschwinden. Die Eltern des Jungen<br />
wollen nicht, dass ihr belastendes<br />
Kind »abgeschoben« und das Problem<br />
»weitergereicht« wird. Sie fordern stattdessen<br />
zusätzliche individuelle Unterstützung<br />
innerhalb des verlässlichen<br />
Rahmens in der Regelschule.<br />
Nicht Straf- oder Ordnungsmaßnahmen,<br />
nicht Zensuren-Druck<br />
oder Klassenwiederholungen,<br />
auch nicht Aussonderungen<br />
in Sondereinrichtungen<br />
sind erfolgversprechend,<br />
wenn Kinder<br />
Grenzen überschreiten.<br />
Wir Pädagogen haben<br />
einen Beruf, der auf Beziehungen<br />
aufbaut. Erfolge<br />
gibt es nur, wenn die<br />
Schule so arbeitet, dass<br />
sich in vielen gemeinsamen<br />
Jahren ein Vertrauen<br />
zwischen allen Beteiligten<br />
entwickelt. Auch schwierige<br />
rechtliche Fragen lassen<br />
sich in gutem Vertrauensverhältnis<br />
leichter lösen.<br />
Viele Eltern wünschen eine Schulklasse<br />
oder feste Stammgruppe, zu der<br />
ihr Kind gehört. Möglichst über viele<br />
Jahre, also von Schulbeginn an bis zum<br />
Schulabschluss, ein »Längeres gemeinsames<br />
Lernen« im ursprünglichen Sinne<br />
des Wortes. Zwei Drittel der Kinder verlieren<br />
durch den Übergang auf die Sekundarstufe<br />
Freundinnen und Freunde.<br />
Ebenso zwei Drittel geben an, dass dies<br />
mit Traurigkeit verbunden ist (vgl. Fritzsche<br />
u. a. 2009). Für labile Kinder können<br />
hier Welten zusammenbrechen. Einige<br />
Kinder mit frühkindlichen Entwicklungsverzögerungen<br />
erarbeiten<br />
sich erst recht spät einen Zahlbegriff.<br />
Manche Kinder – besonders aus Migrantenfamilien<br />
– haben ihre sprachlichen<br />
und sozialen Kompetenzen noch<br />
nicht ausreichend sichern können. Eine<br />
längere Grundschulzeit wird aber nicht<br />
nur von Eltern gewünscht, deren Kinder<br />
besondere Unterstützung brauchen. Im<br />
Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung<br />
kann man lesen: »Zwei Drittel der<br />
OECD-Länder teilen die Schülerinnen<br />
und Schüler erst im Alter von 15 oder<br />
16 Jahren auf unterschiedliche Schularten<br />
auf. Die Logik dahinter: Je früher<br />
man trennt, umso stärker hängt die Entscheidung<br />
von den Eltern ab, die Lehrer<br />
hatten ja bloß vier Jahre vormittags Zeit,<br />
sich um die Bildung der Kinder zu kümmern.<br />
Entscheidet man später, kommt<br />
es mehr auf die tatsächlichen Fähigkeiten<br />
der Schülerinnen und Schüler an«<br />
(Hoffmann 2018, 26).<br />
Welche Vorteile zeigen sich in<br />
Schulen »aus einem Guss«?<br />
In Deutschland gibt es vielfältige Erfahrungen<br />
mit Langform-Schulen. Wenn<br />
man als Kriterium definiert, dass eine<br />
solche Schule nur als Langformschule<br />
zu bezeichnen ist, falls sie für alle Schüler<br />
mindestens vom ersten Schuljahr bis<br />
zum Ende der Pflichtschulzeit gilt, alle<br />
Abschlüsse anbietet und die Primar- und<br />
Sekundarstufe unter einer Leitung steht,<br />
dann existieren derzeit nach Angeben<br />
des Verbands für Schulen des gemeinsamen<br />
Lernens GGG ca. 150 öffentliche<br />
Langformschulen in Deutschland (vgl.<br />
GGG-web.de). Hinzu kommen eine bedeutende<br />
Zahl im Privatschulwesen<br />
(z. B. alle Waldorf-Schulen). Diese relativ<br />
große Zahl erstaunt; erklärbar<br />
ist dies damit, dass<br />
diese Schulform unter keinem<br />
einheitlichen Namen<br />
in der Schulstatistik der<br />
Bundesländer zu finden<br />
ist (Gemeinschaftsschule<br />
in Berlin und Thüringen,<br />
Primus-Schulen in NRW<br />
usw.): eine »verheimlichte<br />
und unterschätzte Schulstruktur«<br />
(Sack 2015a,<br />
35 ff.).<br />
Vorteile einer Langform-Schule<br />
liegen auf<br />
der Hand. Alle an der<br />
Langform-Schule beteiligten<br />
Menschen profitieren. Erfahrungen<br />
und wissenschaftliche Untersuchungen<br />
bestätigen dies (vgl. Sack<br />
2015a, 30 ff.; 2016; siehe ebenfalls Senatsverwaltung<br />
2016; Stähling / Wenders<br />
2015, 218 ff.; Carle 2016):<br />
Welche Vorteile sehen<br />
Schülerinnen und Schüler?<br />
●●<br />
Bekannte, vertraute Schulumgebung<br />
bleibt bestehen.<br />
●●<br />
Bewährte soziale Beziehungen und<br />
gut funktionierende Schülergruppen<br />
bleiben erhalten.<br />
30<br />
GS aktuell 147 • September 2019