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… eine Schule der allseitigen Bildung<br />

Jörg Ramseger<br />

Allseitige Bildung für jedes Kind<br />

Ob, wo und wie die Menschen Handlungskompetenz für eine ungewisse Zukunft<br />

erwerben können – die zentrale Frage des Frankfurter Grundschulkongresses<br />

2019 –, ist seit vielen hundert Jahren Gegenstand des Diskurses über<br />

Bildung.<br />

Der böhmische Pädagoge, Theologe<br />

und Bischof Johann Amos<br />

Comenius formuliert 1657 in<br />

seiner »Didactica magna« den revolutionären<br />

Gedanken, dass nicht nur<br />

– wie bis dato üblich – die Kirchenmenschen<br />

und der Adel Lesen und<br />

Schreiben lernen sollten, sondern dass<br />

alle Menschen ein Recht auf eine allumfassende<br />

Bildung hätten, sogar, wie<br />

er schreibt, das »schwache Geschlecht«.<br />

Denn seiner Auffassung zufolge können<br />

die Menschen die göttliche Ordnung<br />

auf Erden nur verwirklichen und vervollkommnen,<br />

wenn sie über die nötigen<br />

Kenntnisse verfügen, die Welt zu<br />

gestalten, und die Tugenden kennen,<br />

die der göttlichen Ordnung auf Erden<br />

entsprechen. Die Einrichtung, in der die<br />

Menschen die erforderliche zivilisatorische<br />

Kraft erwerben und zur Entfaltung<br />

bringen sollten, war die öffentliche<br />

Schule für alle Kinder und Jugendlichen<br />

des Volkes, die erst zwei Jahrhunderte<br />

später tatsächlich alle Kinder aufnehmen<br />

sollte.<br />

»Weniger Lärm, Überdruss<br />

und unnütze Mühe«<br />

Damit ist der Anspruch auf eine öffentliche<br />

Bildung und Erziehung für jedes<br />

Kind formuliert. Doch es taucht sogleich<br />

die Frage nach der angemessenen Didaktik<br />

für eine solche Schule auf. Comenius<br />

schreibt: »Erstes und letztes Ziel<br />

unserer Didaktik soll es sein, die Unterrichtsweise<br />

aufzuspüren und zu erkunden,<br />

bei welcher die Lehrer weniger zu lehren<br />

brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen,<br />

in den Schulen weniger Lärm, Überdruss<br />

und unnütze Mühe herrsche, dafür<br />

mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter<br />

Fortschritt; in der Christenheit weniger<br />

Finsternis, Verwirrung und Streit, dafür<br />

mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe.« 1<br />

Wenn heute von Ganztagsschulen die<br />

Rede ist, stehen leider eher die Betreuungsprobleme<br />

der berufstätigen Eltern<br />

und die Hoffnung auf verbesserte Möglichkeiten<br />

einer individuellen Förderung<br />

förderbedürftiger Kinder im Vordergrund<br />

der öffentlichen Argumentation<br />

als »die Höherbildung der Menschheit<br />

zum Zwecke der Vollendung der göttlichen<br />

Schöpfung auf Erden«. Einer solchen<br />

Rechtfertigung von Ganztagsschule<br />

hat im Jahr 2001 auf der Pressekonferenz<br />

anlässlich der Verkündung der Ergebnisse<br />

der ersten PISA-Studie, in der<br />

Deutschland bekanntlich nur mittelmäßig<br />

abschnitt, die damalige Präsidentin<br />

der Kultusministerkonferenz Annette<br />

Schavan entgegengehalten: »Wir haben<br />

von den Autoren der PISA-Studie gerade<br />

ausführlich erfahren, wie mittelmäßig<br />

unsere Schulen sind. Wenn wir die nun<br />

alle von 13.00 Uhr bis 16.00 Uhr verlängern,<br />

haben wir den ganzen Tag mittelmäßige<br />

Schulen. Was sollte damit gewonnen<br />

sein?«<br />

Ihr Argument war meines Erachtens<br />

richtig, allerdings hatte Frau Schavan<br />

seinerzeit die beiden Grundformen der<br />

Prof. Dr. Jörg Ramseger hielt die Festrede zur Feier des 40-jährigen<br />

Bestehens der Wartburgschule in Münster (6. April 2019).<br />

Mit der Schule verbindet ihn eine langjährige Mitarbeit im<br />

»Grundschulprojekt Gievenbeck« der Wartburgschule. Wie ein<br />

roter Faden zieht sich das Postulat nach »allseitiger Bildung«<br />

durch seinen Vortrag. Die Redaktion fragte:<br />

Herr Prof. Ramseger, der Grundschulverband postuliert in<br />

seinen »Anforderungen« die »zukunftsfähige Grundschule«<br />

als einen »Ort der allseitigen Bildung«. Warum bringt der<br />

Verband diesen Begriff gerade jetzt neu in die pädagogische<br />

und bildungspolitische Debatte?«<br />

J. R.: In den letzten Jahren ist die Frage nach angemessenen Inhalten<br />

und zeitgemäßen Formen der Bildung der Kinder in der<br />

Grundschule mehr und mehr von einem primitiven Leistungsdenken<br />

abgelöst worden: Wie schneiden die Kinder in den<br />

Klassenarbeiten und wie schneidet Deutschland in den internationalen<br />

Schulleistungsstudien ab? Beklagenswerte und sicher<br />

korrekturbedürftige Ergebnisse in den Orthografietests werden<br />

von der Boulevard-Presse zu nationalen Katastrophen aufgeblasen<br />

und teilweise fragwürdige wissenschaftliche Studien zu<br />

einzelnen Unterrichtsverfahren haben mehrere Bildungsminister<br />

und -ministerinnen zu absurden populistischen Kurzschlusshandlungen<br />

verleitet. Gleichzeitig wird der pädagogische und<br />

(fach-)didaktische Diskurs an den Universitäten<br />

mehr und mehr durch anpassungsorientierte<br />

Sozialtechnologien<br />

(»classroom-management«) ersetzt. Da<br />

scheint es dem Grundschulverband<br />

angeraten, daran zu erinnern, dass der<br />

Bildungsanspruch der Kinder weit umfassender<br />

ist und nicht auf das Training<br />

zum Erreichen von ebenfalls äußerst<br />

fragwürdigen Notendurchschnitten<br />

für den Übertritt zu den weiterführenden Schulen beschränkt<br />

werden darf, denn: Die Grundschule legt nicht nur den Grund<br />

zu aller weiterführenden Bildung, sie hat auch ihren eigenen<br />

Auftrag und ihre eigene Würde und wirkt in nicht unerheblichem<br />

Maße an der Personwerdung ihrer Schülerinnen und<br />

Schüler mit. Das erfordert einen weiten Blick und ein umfassendes<br />

Spektrum an Bildungsangeboten für die Kinder des 21. Jahrhunderts.<br />

Jörg Ramseger war von 2001 bis 2016 Professor für Schulpädagogik<br />

mit dem Schwerpunkt Grundschule an der Freien Universität<br />

Berlin und dort zugleich Leiter der Arbeitsstelle Bildungsforschung<br />

Primarstufe. Er ist Fachreferent für schulische Qualitätsentwicklung<br />

im Grundschulverband.<br />

GS aktuell 147 • September 2019<br />

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