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Berliner Zeitung 16.10.2019

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10 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 240 · M ittwoch, 16. Oktober 2019<br />

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Berlin<br />

Am Donnerstag ist Weltarmutstag.<br />

Auch in Berlin<br />

gibt es viele Bedürftige.Die<br />

Armut sei anders geworden,<br />

sagt Sabine Werth, Vorsitzende<br />

und Gründerin der Tafel. Ihre Organisation<br />

bekommt zudem immer<br />

mehr Konkurrenten: Wirtschaftsunternehmen,<br />

die auf den Markt drängen,<br />

um mit überlagerten Lebensmitteln<br />

ihr Geschäft zu machen.<br />

Frau Werth, was ist Armut? Wer ist<br />

arm? Diese Frage beschäftigt bereits<br />

Generationen vonSoziologen. Es gibt<br />

arme Menschen, die sich überhaupt<br />

nicht arm fühlen. Sie sagen, sie seien<br />

vom Leben reich beschenkt worden,<br />

auch wenn sie zur Tafel gehen und<br />

damit auf Lebensmittelhilfe angewiesen<br />

sind. Und dann gibt es arme<br />

Menschen, die mir für so einen Ausspruch<br />

am liebsten an die Gurgel gehen<br />

würden. Diemir sagen, ich wisse<br />

ja nicht, was es heißt, arm zu sein.<br />

Wissen Siees? Ichkomme aus armen<br />

Verhältnissen. Meine Mutter<br />

war alleinerziehende Krankenschwester.<br />

Ich bin in Buch geboren,<br />

1960 gingen wir in den Westen. Sie<br />

musste damals jeden Pfennig umdrehen,<br />

und es gab ganz klare Ansagen,<br />

wann es was in derWoche zu essen<br />

gab. Ich will mit dem Stempel<br />

arm niemanden deklassieren, sondern<br />

nur darauf hinweisen, dass es<br />

immer eine Frage der eigenen Interpretation<br />

ist, ob ich mich arm oder<br />

reich fühle. Aber sicher gibt es eine<br />

ganz klaremonetäreArmut.<br />

Wiesieht diese Armut aus?<br />

Sie bedeutet, dass man wegen<br />

fehlender finanzieller Mittel nicht<br />

mehr an den Angeboten dieser Gesellschaft<br />

teilhaben kann. Diese Ausgrenzung<br />

kann bis zur totalen Isolation<br />

führen.<br />

Sie haben im Februar 1993 in Berlin<br />

die erste Tafel in Deutschland gegründet.<br />

Warum?<br />

Ich war Mitglied in der Initiativgruppe<br />

<strong>Berliner</strong> Frauen. Wir hörten<br />

einen Vortrag der damaligen Sozialsenatorin<br />

Ingrid Stahmer über Obdachlosigkeit.<br />

Und dann kam ein<br />

Mitglied unseres Vereins mit einem<br />

Artikel über City Harvest New York,<br />

einer Organisation zur Rettung von<br />

Nahrungsmitteln. Die Ehrenamtlichen<br />

dorträumten abends nach den<br />

Empfängen die Banketts leer –um<br />

die übrig gebliebenen Lebensmittel<br />

Obdachlosen zu geben. Wir fanden<br />

das eine tolle Idee.<br />

Wieging es weiter?<br />

Wir haben 23 Obdachloseneinrichtungen<br />

eingeladen und ihnen<br />

vorgeschlagen, Lebensmittel für sie<br />

zu sammeln. 21 fragten: Warumhabt<br />

ihr nicht schon vorgesterndamit angefangen?<br />

Zwei Einrichtungen fanden<br />

unsereIdee politisch inkorrekt.<br />

Warum das?<br />

Weil sie das,was wir wollten, vom<br />

Staat verlangten.<br />

Womit sie doch recht hatten.<br />

Sicher, aber ich warte nicht auf<br />

den Staat. Wenn ich die Notwendigkeit<br />

sehe, dann packe ich an. Als wir<br />

anfingen, bin ich mit meinem Privatauto<br />

dreimal die Woche zum Fruchthof<br />

gefahren. Wir haben dort jeden<br />

Händler nach übrig gebliebenen Lebensmitteln<br />

gefragt, jeden Apfel vom<br />

Erdboden aufgesammelt.<br />

Wiesieht es heute aus?<br />

Bei der Tafel in Berlin arbeiten 32<br />

Festangestellte aller Religionen und<br />

2700 ehrenamtliche Menschen. In<br />

ganz Deutschland sind es 60 000<br />

Freiwillige. Wir haben in Berlin 24<br />

Fahrzeuge und gerade einen zweiten<br />

7,5-Tonnen-Laster bestellt. Dasläuft<br />

alles über Spenden. Ich glaube, wir<br />

haben schon etwas verändert.<br />

Wiemeinen Siedas?<br />

Als wir anfingen, war Kohl noch<br />

an der Regierung. Herr Blüm erklärte,<br />

die Renten seien sicher. Alle<br />

Politiker haben unisono behauptet,<br />

es gebe in Deutschland keine Armut.<br />

Weil die Armut durch das Sozialsystem<br />

gedeckelt werde.<br />

Dasstimmte offenbar nicht.<br />

Das Angebot der Tafel wurde angenommen<br />

und wuchs. Esgab zu-<br />

dem in den Medien immer mehr Berichte<br />

über die Tafel. Journalisten<br />

sind auf die langen Schlangen vor<br />

den Ausgabestellen aufmerksam geworden<br />

und haben nachgefragt,<br />

warum die Menschen dort stehen.<br />

Es wurden immer mehr Tafeln und<br />

immer mehr Menschen. Heute<br />

würde niemand mehr leugnen, dass<br />

es in diesem Land Armut gibt –selbst<br />

die AfD nicht.<br />

Wie viele Menschen versorgen Sie<br />

denn mit der Tafel in Berlin?<br />

Wir versorgen nicht, wir unterstützen.<br />

Das ist ein Riesenunterschied.<br />

Für die Versorgung ist die Politik<br />

zuständig. Sie hat die Pflicht,<br />

diese Aufgabe zu lösen.<br />

Aber kann ich als bedürftiger Mensch<br />

bei der Tafel nicht so viele Lebensmittel<br />

holen, wie ich benötige?<br />

Nein, deswegen haben die Ausgabestellen<br />

ja nur einmal in der Woche<br />

geöffnet. Es sollte niemand mehr Lebensmittel<br />

als für zwei, drei Tage bekommen.<br />

So ist das System der Unterstützung<br />

organisiert.<br />

Anders gefragt: Wie viele Menschen<br />

unterstützt die Tafel in Berlin?<br />

50 000 Menschen suchen jeden<br />

Monat die Ausgabestellen Laib und<br />

Seele der Tafel auf. Insgesamt unterstützen<br />

wir in der Hauptstadt aber<br />

125 000 Bedürftige. 75000 davon<br />

über die 300 sozialen Einrichtungen,<br />

denen wir helfen.<br />

Wassind das für Einrichtungen?<br />

Notunterkünfte, Frauenhäuser, die<br />

Kältehilfe,HIV-Positiven-Beratungsstellen.<br />

Es sind auch ein paar Schulen<br />

dabei, in denen die Eltern inEigeninitiativezusammen<br />

mit Lehrern<br />

Frühstück für die Kinder anbieten.<br />

Das heißt, es gibt auch viele bedürftige<br />

Kinder?<br />

Ein Drittel der 50 000 Menschen,<br />

die im Monat zu uns kommen, sind<br />

Kinder, ein Drittel Senioren. Auch<br />

ein Drittel der Einrichtungen, die wir<br />

versorgen, sind Kinder-und Jugendeinrichtungen.<br />

Gibt es besonders arme Bezirke?<br />

Das kann ich eigentlich nicht sagen,<br />

wir unterstützen Menschen in<br />

Marzahn genauso wie in Zehlendorf.<br />

IstBerlin imVergleich zu den anderen<br />

Bundesländern besonders arm?<br />

Armut ist ein Großstadtphänomen.<br />

Berlin und Brandenburgliegen<br />

„Armut ist ein<br />

Phänomen der<br />

Großstadt“<br />

Ein Gespräch mit Sabine Werth,<br />

Gründerin der Tafel, über neue Formen<br />

der Armut, die Geschichte ihrer<br />

Organisation und die Frage, welche<br />

Aufgabe der Politik bei der Bekämpfung<br />

„ “<br />

Lassen<br />

Sie uns<br />

über Berlin<br />

reden<br />

der Nöte zufällt<br />

Sabine Werth wurde 1957 in Berlin geboren. Ihre alleinerziehende Mutter,eine Krankenschwester,ging<br />

mit ihr 1960 in den Westen. Sie studierte Sozialarbeit und gründete 1987 ihr<br />

Familienpflegeunternehmen.<br />

Im Februar 1993 gründete sie mit der Initiativgruppe <strong>Berliner</strong> Frauen e.V.die <strong>Berliner</strong> Tafel.<br />

Mittlerweile gibt es 947 Tafeln in Deutschland. In Berlin unterstützt die Tafel 50 000 bedürftige<br />

Menschen. 1996 bekam sie für ihre ehrenamtliche Arbeit den Verdienstorden des Landes Berlin,<br />

sieben Jahre später das Bundesverdienstkreuz.<br />

aber mit 43 Ausgabestellen ganz weit<br />

hinten. Nur das Saarland hat noch<br />

weniger.<br />

Müsste es also in der Hauptstadt<br />

mehr Ausgabestellen geben?<br />

Nicht zwingend. In Berlin gibt es<br />

45 Ausgabestellen in der Stadt verteilt.<br />

In Brandenburg43Tafeln. Es ist<br />

nicht sinnvoll, immer mehr Tafeln zu<br />

gründen, da wir uns beim Sammeln<br />

vonWaren dann eventuell gegenseitig<br />

kannibalisieren würden. Dieses<br />

Phänomen gibt es nicht bei Ausgabestellen,<br />

sondernbei Tafeln.<br />

Weil die Supermärkte nicht mehr bereit<br />

sind zu spenden?<br />

Daran liegt es nicht. Die Märkte<br />

geben gerne. Sie tun damit auch etwas<br />

für ihr Image.Wir fahren in der<br />

BERLINER ZEITUNG/MARKUS WÄCHTER<br />

Woche mit unseren Fahrzeugen in<br />

Berlin 850 Märkte aller Größen an<br />

und sammeln Lebensmittel ein.<br />

Aber wir haben mittlerweile eine<br />

zahlende Konkurrenz bekommen.<br />

Wasfür Konkurrenz?<br />

Von Sirplus, einem reinen Wirtschaftsunternehmen.<br />

Es kauft dem<br />

Handel Lebensmittel ab, die das<br />

Haltbarkeitsdatum überschritten<br />

haben und verkauft es preiswert an<br />

alle. Auch an Besserverdienende.<br />

Nun drängt mit Matsmart aus<br />

Schweden noch so ein vermeintliches<br />

Sozialunternehmen auf den<br />

Markt.<br />

Warum empörtSie das so?<br />

Weil sie die Fühler dort ausstrecken,<br />

wo die Tafel unterwegs ist. Sie<br />

bezahlen für die Ware Geld, zwar nur<br />

einen kleinen Betrag. Aber sie verdienen<br />

mit dem Verkauf. Undfür die<br />

Händler ist es interessanter,die Ware<br />

zu verkaufen. Zumal sie auf gespendete<br />

Waren auch noch Steuern zahlen<br />

müssen. Daskann es nicht sein.<br />

Waskann die Tafel dagegen tun?<br />

WirTafeln müssen so schnell wie<br />

möglich die Politik dazu bewegen,<br />

das Steuerrecht dahingehend zu ändern,<br />

dass das kostenlose Abgeben<br />

von Waren nicht mehr versteuert<br />

werden muss. So, wie bei den Bäckern,<br />

wo das mittlerweile schon geschieht.<br />

Wieviel Lebensmittel können Siedenn<br />

noch verteilen?<br />

Wir sammeln etwa 1000 Tonnen<br />

im Monat ein, sortieren sie noch einmal<br />

gründlich. Bis zu 660 Tonnen<br />

können wir im Monat verteilen. Aber<br />

es wirdeindeutig weniger.<br />

Wassind das fürWaren?<br />

Alles,was im Handel zu kaufen ist.<br />

EinTeil sind auchWaren, die das Mindesthaltbarkeitsdatum<br />

zwar überschritten<br />

haben, aber noch völlig in<br />

Ordnung sind. Zwei Drittel bis drei<br />

Viertel davon sind Obst und Gemüse.<br />

30 bis 40 Prozent davon Bioware.<br />

Dashörtsich doch gut an.<br />

Ist esauch. Wir hatten mal eine<br />

Studentin der Charité, die inzwischen<br />

den Doktortitel hat. Sie fand heraus,<br />

dass bedürftige Menschen, die sich<br />

Lebensmittel bei Laib und Seele der<br />

Tafel holen, gesünder sind, als bedürftige<br />

Menschen, die das nicht machen.<br />

Warum ist das so?<br />

Weil die Menschen, die zur Tafel<br />

kommen, mehr Obst und Gemüse erhalten.<br />

Die Erklärung ist eigentlich<br />

ganz einfach: Das Kilogramm<br />

Schweinenackensteak gibt es im Supermarkt<br />

für 2,99 Euro im Angebot.<br />

Und zur selben Zeit kostet das Kilo<br />

Paprikaschoten 5,99 Euro.Dagreifen<br />

alle mit einem schmalen Geldbeutel<br />

verständlicherweise zum Fleisch,<br />

weil es billig ist, und lassen das Gemüse<br />

liegen.<br />

Berlin und Brandenburg liegen bei der<br />

Anzahl der Tafeln ganz hinten. Aber<br />

welches Bundesland hat die meisten<br />

Tafeln?<br />

Es gibt mittlerweile 947 Tafeln in<br />

Deutschland, zu denen 1,6 Millionen<br />

Menschen kommen. Sie werden es<br />

nicht glauben: Die größte Tafel-<br />

Dichte gibt es in Bayern und in Nordrhein-Westfalen.<br />

Bayern gilt doch als das reichste Bundesland.<br />

Das ist gerade das Faszinierende.<br />

Es gibt dortgenügend Landwirtschaft<br />

und Lebensmittelindustrie. Aber sie<br />

haben auch genug Armut, sodass sich<br />

Tafeln lohnen.<br />

Istdie Armut in den vergangenen Jahrengrößer<br />

geworden?<br />

Sie ist anders geworden. Früher<br />

hatte ich das Gefühl, dass sich die<br />

Menschen aus der Sozialhilfe aus eigener<br />

Kraft herausbewegen können.<br />

Heute hingegen heißt es: einmal arm,<br />

immer arm, einmal Sozialhilfe, immer<br />

Sozialhilfe.<br />

Woranliegt das?<br />

Es liegt am System, es liegt an den<br />

Menschen. Es gibt beispielsweise das<br />

neue Teilhabechancengesetz, mit<br />

dem Langzeitarbeitslose in Arbeit gebracht<br />

werden sollen. Sie fallen aus<br />

dem Hartz-IV-System heraus und erhalten<br />

keinerlei staatliche Unterstützung<br />

mehr. Nicht für die defekte<br />

Waschmaschine, nicht für die Rundfunkgebühren.<br />

Damit kommen viele<br />

nicht zurecht. Mit Hartz IV, das in<br />

meinen Augen ein Fehler war,ist den<br />

Menschen ein Stück weit die Selbstständigkeit<br />

und Eigenverantwortung<br />

genommen worden.<br />

Sie nehmen keine staatlichen Hilfen<br />

an.Warum nicht?<br />

Weil wir verhindern wollen, dass<br />

der Staat sich auf uns ausruht. Würde<br />

ich Unterstützung annehmen, wäre<br />

ich gezwungen, das Spiel so zu spielen,<br />

wie der Staat es will. Das ist gefährlich.<br />

Ist die Tafel damit nicht ein Armutszeugnis<br />

für den Staat?<br />

Natürlich. Aber das sieht der Staat<br />

nicht so. Wir machen seit 27 Jahren<br />

auf Lebensmittelverschwendung<br />

und Armut aufmerksam. Weder hat<br />

sich etwas an der Lebensmittelverschwendung<br />

noch an der Armut geändert.<br />

Dasist traurig.<br />

Aber Sie und Ihre Mitstreiter resignierennicht.<br />

Na klar machen wir weiter. Auch<br />

mit neuen Ideen.<br />

Welche Ideen sind das?<br />

Wir haben einen Kinder- und Jugendbereich<br />

entwickelt. Denn wir<br />

wollen nicht nur arme Kinder erreichen,<br />

sondernalle Mädchen und Jungen<br />

über Lebensmittel und gesunde<br />

Ernährung informieren.<br />

DasInterviewführte Katrin Bischoff.

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