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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 240 · M ittwoch, 16. Oktober 2019 – S eite 21 *<br />
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Feuilleton<br />
Paul Berf übersetzt<br />
KarlOve Knausgård.<br />
Ein Interview<br />
Seite 23<br />
„Wie ein Menschenleben verändert sich auch eine Stadt.“<br />
Harry Nutt in seiner Besprechung von Jens Biskys großem Berlin-Buch Seite 22<br />
Internet<br />
Wilder Westen<br />
im Web<br />
Thomas Klein<br />
empörtsich über die<br />
ungeregelte Online-Welt<br />
Mitte der Nullerjahre wurde aus<br />
der Spielwiese Internet ein Geschäftsmodell<br />
und Mark Zuckerbergs<br />
Facebook versprach eine<br />
schöne, neue Online-Welt. Kontakt<br />
halten mit Freunden, Meinungen<br />
und Inhalte teilen mit einer privaten<br />
oder auch weltweiten Öffentlichkeit,<br />
alles ganz gebührenfrei, vor allem<br />
aber sicher: Adieu, wildwuchernde<br />
Chatrooms voll anonymer User mit<br />
Namen wie „Satan667“ oder<br />
„T1ttenmau5“, hallo, belegter Klarname<br />
und verbindliche Identität.<br />
Heute ist klar:Als Datenkrake bedient<br />
Facebook nicht nur Werbetreibende<br />
und externe Informationsbeschaffungsunternehmen,<br />
sondern<br />
auch Propagandisten jedweder Couleur:<br />
Trolle und Fake-Accounts lauernanjeder<br />
Ecke,Treibstoff jeder öffentlichen<br />
Konversation sind Beleidigungen<br />
und Hetze; das Fehlen<br />
ernsthafter Moderation ist kein Zufall,<br />
Streit und Dissens sorgen für<br />
Klicks. In„geschlossenen“ Gruppen<br />
schaukeln sich Spinner und Extremisten<br />
hoch oder organisieren gewalttätige<br />
Übergriffe.<br />
Anderswo ist es nicht besser:<br />
Twitter ist auch dank Donald Trump<br />
nur noch Empörungsmaschine, auf<br />
Googles YouTube wie auch in Amazons<br />
Online-Katalog stolpert man<br />
über Nazi-Propaganda und andere<br />
Geschmacklosigkeiten ebenso wie<br />
über Werbung von Impfgegnern<br />
oder Anlage-Tricksern. Im Einzelfall<br />
wird gehandelt, werden Accounts<br />
stillgelegt und besonders verfängliche<br />
Inhalte gelöscht. Doch unter Berufung<br />
auf das US-Konzept vonMeinungsfreiheit<br />
und angebliche technische<br />
Begrenzungen blockieren die<br />
Online-Giganten jede Form öffentlicher<br />
oder staatlicher Regularien. In<br />
der realen Welt drohen jedem Imbiss-Betreiber<br />
empfindliche Strafen,<br />
wenn seine Tische sechs Zentimeter<br />
zu weit auf den Gehweg ragen. Doch<br />
im Netz herrscht trotz Bundesnetzagentur<br />
weiterhin Wilder Westen, da<br />
können Radikale Jagd auf politische<br />
Gegner machen und Terroristen ihre<br />
Taten live-streamen.<br />
Feinste Sahne Schiffsmusik<br />
Das Filmmusical „Ich war noch niemals in New York“ überzeugt mit Herz, Rhythmus und tollen Darstellern<br />
VonCornelia Geißler<br />
Es wäre schade, wenn allein<br />
das Genre des neuen Films<br />
von Philipp Stölzl potenzielle<br />
Zuschauer vom Kino<br />
fernhielte. Esist ein Musical. Bitte,<br />
lesen Sie weiter. „Ich war noch niemals<br />
in New York“ hat Charme, obwohl<br />
der Film aus Deutschland<br />
kommt. MitRegina Ziegler und Nico<br />
Hofmann waren hier jene Produzenten<br />
am Werk, die es schaffen, Geld<br />
und Aufmerksamkeit zu organisieren.<br />
An die zehn Jahre dauerten die<br />
Vorbereitungen, das Budget umfasste<br />
12,5 Millionen Euro.<br />
Prima Pointen<br />
Als blinde Passagierin zum Putzen verdonnert: Lisa (HeikeMakatsch).<br />
Die Musik stammt von Udo Jürgens<br />
(1934–2014), dessen Schlager nicht<br />
in Banalität verhungerten, weil er sie<br />
mit dem französischen Chanson<br />
und amerikanischen Swing gefüttert<br />
hat. Doch die große Zeit des Musikfilms,<br />
der eine Revue auf die Leinwand<br />
übersetzte, ist lange vorbei.<br />
Das Kino funktioniert heute anders.<br />
„A Star Is Born“ zum Beispiel oder<br />
„Rocketman“ sind Filme, die Musik<br />
zum Thema haben. Die Zahl geglückter<br />
Musicalfilme der Gegenwart,<br />
in denen die Figuren harmonisch<br />
vom Sprechen ins Singen und<br />
Tanzen wechseln, ist klein. Da gibt es<br />
„Mamma Mia!“, „La La Land“ und in<br />
diesem Jahr „Blinded by the Light“.<br />
Der letzte deutschsprachige Erfolg<br />
stammt aus dem Jahr 1988 mit<br />
der Grips-Adaption„Linie 1“.Wiebei<br />
diesem hatten die Filmemacher den<br />
Stoff jetzt schon als Bühnenfassung<br />
vor Augen. Stage Entertainment<br />
brachte „Ich war noch niemals in<br />
NewYork“ vorzwölf Jahren zunächst<br />
in Hamburg zur Uraufführung und<br />
ließ es auch in anderen Städten wie<br />
Berlin spielen. Zwar erzählt die Produzentin<br />
Regina Ziegler, die auch<br />
UdoJürgens’Lebensgeschichte „Der<br />
Mann mit dem Fagott“ umgesetzt<br />
hat, sie habe das Potenzial des Stücks<br />
erkannt, als die Zuschauer in Hamburg<br />
auf den Sitzen tanzten, doch<br />
gelten beim Film andere Gesetze als<br />
bei einer Live-Show. DerHandlungsbogen<br />
im Drehbuch von Philipp<br />
Stölzl, Alexander Dydyna und Jan<br />
Berger reicht weiter, viel mehr Figuren<br />
agieren, es gibt mehr Episoden<br />
und unzählige sorgfältig gesetzte<br />
Pointen. Es kommen auch etwas weniger<br />
Udo-Jürgens-Songs zum Einsatz,<br />
oft im Text variiert und nie von<br />
Anfang bis Ende durchgesungen.<br />
Vielleicht konnte sich Philipp<br />
Stölzl, der in den 90er-Jahren mit<br />
Musikvideos für Rammstein angefangen<br />
hatte,sich so gut in das Genre<br />
Musical hineindenken, weil er sowohl<br />
mit großen Kino- als auch Bühnenstoffen,<br />
vertraut ist –erdrehte<br />
„Goethe!“ mit Alexander Fehling<br />
und verfilmte den Bestseller „Der<br />
Medicus“, er inszeniert Opern in<br />
Berlin, Wien und München.<br />
Stölzl macht es insofern spannend,<br />
als dass der Anfang zwar<br />
UNIVERSAL<br />
schon die bunten Farben des Films<br />
vorgibt, allerdings dumme Karrierefrau-Klischees<br />
so überreizt, dass<br />
man zu fürchten beginnt, welche<br />
Scherze noch aus der Klamottenkiste<br />
gezogen werden. Lisa, eine<br />
Fernsehmoderatorin mit Star-Allüren<br />
(Heike Makatsch) erfährt, dass<br />
ihre von ihr vernachlässigte Mutter<br />
(Katharina Thalbach) nach einem<br />
Sturz aus dem Krankenhaus geflohen<br />
ist und sich auf ein Luxusschiff<br />
mit Ziel NewYorkhat bringen lassen.<br />
An Bord endlich, in dieser abgegrenzten<br />
Unterhaltungswelt –„aber<br />
bitte mit Sahne“ –, findet der Regisseur<br />
sein Thema, den richtigen, in<br />
Massenszenen synchron inszenierten<br />
Schwung und das perfekte Komödien-Timing.<br />
Lisa entdeckt zwar<br />
die Mutter, kommt aber nicht mehr<br />
vom Schiff herunter, wo sie als<br />
blinde Passagierin zum Putzen verdonnert<br />
wird, wobei sie nun auch<br />
den schüchternen Witwer Alex (Moritz<br />
Bleibtreu) trifft. Makatsch und<br />
Bleibtreu präsentieren sich als Musical-Traumpaar,<br />
in witzigen und<br />
emotionalen Momenten.<br />
Witziges Wasserballett<br />
Lisas Mutter empfindet derweilen<br />
Zuneigung zu einem Eintänzer an<br />
Bord (Uwe Ochsenknecht). Katharina<br />
Thalbach spricht mehr als sie<br />
singt, doch ihreEntwicklung vomtüdeligen<br />
Altchen über die Kämpferin<br />
ohne Gedächtnis zur jungbrunnengetauchten<br />
Frau spielt sie mit großer<br />
Ausstrahlung. Und Uwe Ochsenknecht<br />
erweist sich als verführerischer<br />
Sänger, seine Figur entdeckt<br />
unter der schmierigen Gigolofassade<br />
ihr altes junges Herz.<br />
Nun passt alles zusammen, der<br />
harmonische Übergang vom Sprechen<br />
zum Singen und die Tanzeinlagen<br />
vomWasserballett bis zum Fred-<br />
Astaire-Step.EsgibtVerwechslungen<br />
und verpasste Chancen, Optimismus,<br />
Melancholie und die Angst vor<br />
der Wahrheit. Die Szenen sind<br />
manchmal spiegelbildlich gegeneinander<br />
geschnitten oder ziehen sich<br />
in Etappen über die Ebenen des<br />
Schiffs,vom Sonnendeck in den Saal<br />
zum Mannschaftsquartier. Und immer<br />
gibt es einen sprechenden Song<br />
von„Ichweiß, was ich will“, „Gib mir<br />
deine Angst“ bis zu „Griechischer<br />
Wein“ oder „Siebzehn Jahr, blondes<br />
Haar“. Das titelgebende „Ich war<br />
noch niemals in NewYork“ ist nicht<br />
nur der Auslöser für die verwirrte<br />
Rentnerin, auf Reisen zu gehen, es<br />
begleitet auch ein chaotisches<br />
Happy End, in dem erstaunlicherweise<br />
alle losen Erzählenden gewitzt<br />
verknäult werden. Kaum vorstellbar,<br />
dass jemand aus diesem Film nicht<br />
beschwingt hinausgeht.<br />
Ichwar noch niemalsinNew York. Dtl./Österr.<br />
2019. Regie: PhilippStölzl, Drehbuch:Philipp<br />
Stölzl,Alexander Dydyna undJan Berger,Kamera:<br />
Thomas Kiennast.Darsteller:HeikeMakatsch,<br />
Moritz Bleibtreu, Katharina Thalbach, UweOchsenknecht<br />
u.a.129 Minuten,Farbe, FSK 0<br />
NACHRICHTEN<br />
Europäischer Kulturpreis für<br />
Maler Neo Rauch<br />
DerEuropäische Kulturpreis „Taurus“<br />
geht in diesem Jahr u.a. an den<br />
Maler NeoRauch sowie den Sänger<br />
René Pape.Bei einer Gala in der Wiener<br />
Staatsoper werdedie undotierte<br />
Auszeichnung am kommenden<br />
Sonntag überreicht, teilte das Europäische<br />
Kulturforum mit Sitz in<br />
Dresden mit. Geehrtwerden außerdem<br />
die schwedische Sopranistin<br />
Nina Stemme,ihr Kollege Thomas<br />
Hampson aus den USA, der italienische<br />
Filmstar Sophia Loren, Designerin<br />
Vivienne Westwood, die australische<br />
Dirigentin Simone Young,<br />
der Komponist und Mäzen Gordon<br />
Getty (USA) und die UmweltinitiativeR20<br />
Austrian World Summit.<br />
Preisstifter ist das Europäische Kulturforum.<br />
(dpa)<br />
Stadtmuseum Gera<br />
präsentiertDDR-Spielzeug<br />
Das Spiel „Flieg mein Hütchen“ vom VEB<br />
PlaticartAnnaberg-Buchholz M. SCHUTT/DPA<br />
VomBaukasten „VeroConstruc“ bis<br />
zur Sprechpuppe aus dem VEB Biggi<br />
Waltershausen: DasStadtmuseum<br />
Gera weckt mit einer neuen Ausstellung<br />
Kindheitserinnerungen an<br />
DDR-Tage.Unter dem Titel „Eisenbahn<br />
und Feuerwehr,Puppenherd<br />
und Teddybär“ bietet das Haus anhand<br />
vonetwa 350 Exponaten einen<br />
Streifzug durch die einstige Spielzeugproduktion<br />
zwischen Ostsee<br />
und Erzgebirge.Die Ausstellungsmacher<br />
bauen dabei auf den Wiedererkennungseffekt,<br />
wie Museumsmitarbeiter<br />
Matthias Wagner am<br />
Dienstag erläuterte.Deswegen sei<br />
Spielzeug ausgewählt worden, das<br />
damals besonders typisch war.<br />
DieAusstellungsstücke sind allesamt<br />
Leihgaben eines Ostthüringer<br />
Sammlerehepaares.Die Au sstellung<br />
steht bis Mitte MärzBesuchern<br />
offen. (dpa)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Altstadt<br />
Berlins erste …<br />
U-Bahn<br />
VonFalkoHennig<br />
Wenn man eine U-Bahn als öffentliche,<br />
unterirdische Verkehrslinie definiert,<br />
dann war die sogenannte Knüppelbahn die<br />
erste,deren Tunnel unter der Spreevon 1895<br />
bis 1899 gebaut wurde, auch wenn es sich<br />
um eine Straßenbahnlinie handelte. Eigentlich<br />
sollte die Bahn die Spreeschon zur Großen<br />
Gewerbeausstellung 1896 unterqueren.<br />
Doch auch damals klappte es mit großen<br />
<strong>Berliner</strong> Verkehrsbauten nicht so wie geplant,<br />
es kam durch Schwemmsand und eindringendes<br />
Grundwasser zu Verzögerungen.<br />
Zur Ausstellung konnte nur ein 160 Meter<br />
langer Abschnitt des Tunnels gezeigt werden,<br />
den man zu Fuß betreten konnte. Noch drei<br />
Jahre mussten vergehen, ehe im Dezember<br />
1899 tatsächlich die erste Bahn von Stralau<br />
nach Treptowund zurück fuhr.<br />
Der 454 Meter lange Tunnel war im damals<br />
modernen Brustschildvortrieb erbaut<br />
worden und bestand aus einem Zentimeter<br />
dickem Eisen, das noch voneinem zehn Zentimeter<br />
dicken Betonmantel umgeben war.<br />
Zwölf Meter unter der Oberfläche der Spree<br />
lag der tiefste Punkt der Röhre.<br />
Die Linie begann am Schlesischen Bahnhof,<br />
heute Ostbahnhof, als normale Straßenbahn,<br />
fuhr neben der Spreeauf die Halbinsel<br />
Stralau an Dorfkirche und Friedhof vorbei,<br />
um dann rechts in den Tunnel zum Treptower<br />
Park zuführen. Zwei Minuten dauerte<br />
die sensationelle Fahrtunter der Spree.<br />
Warum Knüppelbahn? Die Linie war nur<br />
eingleisig und man befürchtete den Zusammenstoß<br />
zweier sich im Tunnel begegnender<br />
Bahnen. Deshalb wurden an den Ausgängen<br />
des Tunnels in Treptow und Stralau Posten<br />
stationiert, die an die Fahrer der Bahn vor<br />
EIGENHUFE<br />
Einfahrt einen Signalstab ausgaben, der von<br />
den <strong>Berliner</strong>nKnüppel genannt wurde.Dies<br />
war eine Art Staffelstab in nur einem Exemplar,<br />
der dem Fahrer nach der Ausfahrt wieder<br />
abgenommen wurde. Sohatte man die<br />
Garantie,dass wirklich nur eine Bahn in dem<br />
Tunnel unterwegs war,und so bekam die Linie<br />
den Namen Knüppelbahn.<br />
1916 kam es aber trotz dieser Sicherheitsmaßnahme<br />
zum Zusammenstoß zweier<br />
Bahnen im Tunnel, weil ein Fahrer ohne<br />
Knüppel eingefahren war.Zum Glückwurde<br />
niemand verletzt.<br />
1932 wurde die defizitäre Bahn eingestellt,<br />
weil nach mehreren Wassereinbrüchen<br />
das Geld für Reparaturen fehlte.Zuden<br />
Olympischen Sommerspielen 1936 wurde<br />
der Tunnel gesichertund wieder für Fußgänger<br />
geöffnet. Aufder Seite vonStralau diente<br />
der Tunnel im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzraum.<br />
Dafür war er unter der Spree<br />
mit einer Betonmauer geschlossen worden,<br />
da vor allen Dingen auf Treptower Seite das<br />
Wasser einsickerte. 1948 wurde er vollständig<br />
geflutet. Noch bis 1968 gab es die Zufahrten,<br />
dann wurden sie abgetragen und die ersten<br />
Tunnelmeter zugeschüttet.<br />
Immer wieder gab es Gerüchte um darin<br />
versteckte Kunstschätze, sogar das berühmte<br />
Bernsteinzimmer wurde im Tunnel<br />
vermutet.Doch bei einer Besichtigung nach<br />
der Wende fand man nur DDR-Schulbänke<br />
im trüben Wasser.<br />
Als erste richtige U-Bahn-Linie, imGegensatz<br />
zur unterirdischen Straßenbahn, gilt<br />
die vom Stralauer Torzum Potsdamer Platz,<br />
die 1902 eingeweiht wurde. Sie bildet bis<br />
heute den wichtigsten Abschnitt der U1.<br />
Man muss aber den Begriff U-Bahn für sie<br />
sehr elastisch anwenden, denn sie fuhr acht<br />
Kilometer als Hochbahn und nur zwei Kilometer<br />
unter der Erde.