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Berliner Zeitung 16.10.2019

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22 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 240 · M ittwoch, 16. Oktober 2019<br />

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Feuilleton<br />

Frankfurter Buchmesse<br />

Bis zum Sonntag präsentieren 7450 Aussteller aus 104 Ländern in Frankfurt am Main ihre Neuerscheinungen.<br />

Auf dem deutschen Buchmarkt geht es vorsichtig aufwärts, Sachbücher wie das von Jens Bisky tragen dazu bei.<br />

„Lesend<br />

verlassen wir<br />

die Blase“<br />

Frankfurter Buchmesse<br />

eröffnet<br />

Zum Auftakt der Frankfurter<br />

Buchmesse blickt die Branche<br />

auf positive Marktzahlen, sieht sich<br />

aber zugleich in einer gesellschaftlichen<br />

Verantwortung. „Verlagen und<br />

Buchhandlungen gelingt es, sich in<br />

der wachsenden Medienkonkurrenz<br />

zu behaupten“, sagte der Vorsteher<br />

des Börsenvereins des Deutschen<br />

Buchhandels, Heinrich Riethmüller.<br />

„Bis Sonntag sind wir dazu aufgerufen,<br />

uns damit zu beschäftigen, welchen<br />

Beitrag wir als Kultur-und Medienbranche<br />

zu den drängenden<br />

Fragen unserer Zeit leisten können.“<br />

Nobelpreisträgerin warnt<br />

Für die ersten neun Monate 2019<br />

verzeichnete der Buchmarkt ein<br />

Umsatzplus von 2,5 Prozent im Vergleich<br />

zum Vorjahreszeitraum. 2018<br />

hatte es noch ein Minus von1,1 Prozent<br />

für die ersten drei Quartale gegeben.<br />

Besonders erfolgreich war in<br />

diesem Jahr das Sachbuch (plus 9,6<br />

Prozent). „Viele Menschen suchen<br />

nach Orientierung und verlässlicher<br />

Information, um die gesellschaftlichen<br />

Entwicklungen besser verstehen<br />

zu können“, sagte Riethmüller.<br />

Die Messehallen für die weltgrößte<br />

Bücherschau mit rund 7450<br />

Ausstellern aus 104 Ländern öffnen<br />

sich am heutigen Mittwoch. Zur Eröffnungsfeier<br />

am Dienstagabend war<br />

hoher Besuch aus dem Gastland Norwegen<br />

gekommen: Kronprinzenpaar<br />

Haakon und Mette-Marit war mit einem<br />

Sonderzug nach Frankfurt gereist,<br />

an Bord knapp 20 Autoren. Bei<br />

der Eröffnungsfeier las die Kronprinzessin<br />

auf Norwegisch das Gedicht<br />

vor, dessen erste Zeile das Motto des<br />

diesjährigen Gastland-Auftritts bildet:<br />

„Der Traum in uns …“ Dieser<br />

Traum handle von Teilhabe, erklärte<br />

anschließend Norwegens Ministerpräsidentin<br />

Erna Solberg.<br />

Der antisemitische Anschlag von<br />

Halle, Globalisierung und Digitalisierung,<br />

Klimakrise, Migration oder<br />

autoritäre Regime – in den Eröffnungsreden<br />

wurden zahlreiche Themen<br />

angerissen, die unsere Gesellschaft<br />

und unsere Werte bedrohen.<br />

Undinallen wurde die Kraft der Literatur<br />

beschworen. Am besten<br />

brachte es die norwegische Reiseschriftstellerin<br />

Erika Fatland auf den<br />

Punkt: „Diktatoren fürchten das geschriebeneWort.“<br />

Dermit Spannung<br />

erwartete Literaturstar Karl-Ove<br />

Knausgård beschwor „eines der<br />

wichtigsten Merkmale der Literatur:<br />

ihreLangsamkeit“.<br />

„IneinerWelt, die nach schnellen,<br />

einfachen Antworten lechzt, hilft die<br />

langsame Kraft der Literatur,uns vor<br />

autoritären Reflexen, vor Abschottung,<br />

vor allzu einfachen Antworten<br />

zu schützen“, sagte Bundesaußenminister<br />

Heiko Maas (SPD). Lesen<br />

zwinge zur Anteilnahme, erfordere,<br />

andere Haltungen gelten zu lassen,<br />

Vieldeutigkeit zu akzeptieren. „So<br />

paradoxesklingen mag: Lesend verlassen<br />

wir die Blase.“<br />

ZurPressekonferenz am Nachmittag<br />

war auch die frischernannte Literaturnobelpreisträgerin<br />

Olga Tokarczuk<br />

gekommen. Siesei „nicht besonders<br />

glücklich“ über den Sieg der Nationalkonservativen<br />

bei der<br />

Parlamentswahl in Polen am Sonntag.<br />

Eine Zensur für Schriftsteller<br />

gebe es zwar nicht, erklärte die 57-<br />

Jährige. Allerdings beobachte sie einen<br />

Hang zur Selbstzensur bei einigen<br />

Kollegen, die mit schwierigen<br />

Themen nicht anecken wollten. (dpa)<br />

Sinfonien einer großen Stadt<br />

Von1440 bis heute: Jens Bisky hat eine faszinierende Geschichte Berlins geschrieben<br />

VonHarry Nutt<br />

In dem in den letzten Jahren zu<br />

erstaunlicher urbaner Blüte gelangten<br />

Neukölln verläuft die<br />

Hobrechtstraße vom Maybachufer<br />

im Norden des Bezirks bis<br />

zur Karl-Marx-Straße im Süden. Das<br />

Viertel ist beliebt, in den Straßen haben<br />

sich Cafés und Pop-up-Stores<br />

angesiedelt. Aber kaum ein Passant<br />

und nur wenige Einheimische dürften<br />

hier wissen, wer der Namensgeber<br />

der Straße war. Dabei ist James<br />

Hobrecht eine der bedeutendsten<br />

Personen der Stadtgeschichte. Von<br />

ihm stammt der Fluchtlinienplan<br />

von 1862, in dem festgelegt wurde,<br />

welche Grundstücke bebaut werden<br />

durften und welche Straßen und<br />

Plätze freizuhalten waren. Er sei, so<br />

schreibt Jens Bisky,„so etwas wie die<br />

Matrix der kaiserzeitlichen Großstadt<br />

geworden, man spürt es bis<br />

heute, wenn man durch Hobrecht-<br />

Plan-Gelände geht.“<br />

Der Stadtplaner beließ es aber<br />

nicht bei dem nach ihm benannten<br />

Plan, der der wachsenden Stadt ein<br />

wenig Luft zum Atmen ließ. Später<br />

wurde er mit der Umsetzung seiner<br />

Pläne einer Kanalisation mit zwölf<br />

Radialsystemen beauftragt, über die<br />

die Abwässer auf die neu angelegten<br />

Rieselfelder gepumpt wurden. Die<br />

1893 fertiggestellten Radialsysteme<br />

machten Berlin zur Stadt mit dem<br />

saubersten Wasser der Welt.<br />

Es sind Geschichten wie diese,die<br />

Biskys Buch zu einer lustvollen Entdeckungsreise<br />

machen. Das Grundgerüst<br />

einer Chronik, die ohne die<br />

Eckdaten der Herrschaftsgeschichte<br />

nicht auskommt, wird bevölkert mit<br />

Akteursgeschichten, die den Stoff<br />

erst lebendig machen.<br />

Die Stadt als Individuum<br />

Ein Ende, ein Anfang.Die sowjetische Fahne wird 1945 auf dem Reichstag gehisst. IMAGO<br />

DAS BUCH<br />

Jens Bisky<br />

Berlin. Biographie einer großen Stadt<br />

Rowohlt Berlin, 976 S.,38Euro<br />

Im Verlagsgeschäft hat man sich angewöhnt,<br />

Stadtgeschichten wie dieser<br />

den Gattungsnamen Biografie zu<br />

geben. Vorbild hierfür ist der britische<br />

Autor Peter Ackroyd, der über<br />

London, Venedig oder auch die<br />

Themse geschrieben hat. DerBegriff<br />

Biografie legt nahe,dass es vorallem<br />

darum geht, dem Areal eines dicht<br />

besiedelten Gebildes einen individuellen<br />

Charakter zu attestieren.Wie<br />

ein Menschenleben verändert sich<br />

auch eine Stadt, obwohl unverkennbare<br />

Wesensmerkmale das Gesamtbild<br />

prägen.<br />

Der Gedanke ist nicht ganz neu.<br />

In Bezug auf Berlin hat ihn der<br />

Kunstschriftsteller Karl Scheffler bereits<br />

in seiner scharfen Polemik„Berlin<br />

– ein Stadtschicksal“ aus dem<br />

Jahre 1910 genüsslich buchstabiert.<br />

Er beklagt darin die Rohheit und Stillosigkeit<br />

der preußischen Metropole,<br />

die er vor allem auf das zu schnelle<br />

Wachstum während der verspätet<br />

einsetzenden Industrialisierung zurückführt.<br />

Berlin wurde gewissermaßen<br />

von den Phänomenen des Fortschritts<br />

überrannt und hat dabei den<br />

Typus des Emporkömmlings hervorgebracht.<br />

Mankann Schefflers Buch,<br />

wie Bisky es tut, als schlecht gelaunten<br />

Kulturpessimismus auffassen, in<br />

dem durch den empörten Tonzutreffende<br />

Beobachtungen allzu<br />

leicht verloren gehen. VonScheffler<br />

stammt die berühmte Sentenz, dass<br />

Berlin dazu verdammt sei, immer zu<br />

werden und niemals zu sein. Er interessieresich,<br />

kritisiertBisky,vor allem<br />

für das,was Berlin fehlt.<br />

Bisky ist auf Neubewertung und<br />

überraschende Kontextualisierungen<br />

aus. Vieles von dem, was man<br />

heute als „typisch Berlin“ zu bezeichnen<br />

geneigt ist, hatte sich bereits<br />

herausgebildet, ehe die kurfürstlichen<br />

Privatstädte Cölln und<br />

Berlin 1709 zu einer Stadt vereint<br />

wurden. Der„<strong>Berliner</strong> Unwille“ ist so<br />

gesehen nicht nur die historische<br />

Benennung für eine um 1440 begonnen<br />

Auseinandersetzung der Berlin-<br />

Cöllner Bürger über den Bau einer<br />

Burg auf der Spreeinsel. Nicht minder<br />

steht Unwille, der mit der berühmten<br />

<strong>Berliner</strong> Schnoddrigkeit<br />

verwandt scheint, für den Eigensinn<br />

eines städtischen Bewusstseins, das<br />

sich anders herausbilden musste als<br />

etwa das Patriziertum der großen<br />

Handelsstädte.<br />

Mit dem Soziologen Georg Simmel<br />

beschreibt Jens Bisky,Kulturkorrespondent<br />

der Süddeutschen <strong>Zeitung</strong><br />

und einige Jahre Feuilletonredakteur<br />

der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>, das sich<br />

beschleunigende Großstadtleben als<br />

„fürchterlichen Nivellierer“. Die Anpassung<br />

an Reizfülle, Geldwirtschaft<br />

und Rechenhaftigkeit erschöpfe sich<br />

aber nicht nur in einer Verstandeskultur,<br />

seelischer Robustheit, sachlicher<br />

Härte sowie Blasiert- und Reserviertheit.<br />

Diegroße Stadt ermögliche<br />

und erfordere zugleich die Ausbildung<br />

einer urbanen Individualität.<br />

In den Großstädten, so Simmel, ringen<br />

zwei Formen des Individualismus<br />

miteinander: das Bewusstsein<br />

der Gleichheit und der Wille, unverwechselbar<br />

zu sein. Berlin war immer<br />

ein Schauplatz für beides.<br />

Mit stilistischer Schnörkellosigkeit<br />

versteht es Bisky, soziologische<br />

Verdichtung mit historischen, architektonischen<br />

und stadtplanerischen<br />

Entwicklungen zu verbinden. Neben<br />

der Hervorhebung so berühmter<br />

Baumeister wie Memhardt, Schlüter<br />

oder Schinkel bleibt genügend<br />

Raum für <strong>Berliner</strong> Lokalgeschichten.<br />

So absurd esfür ein Werk von fast<br />

1000 Seiten klingen mag, bestand die<br />

Herausforderung beim Schreiben<br />

dieses Buches wohl in der Kunst des<br />

Weglassens. Wie verführerisch mag<br />

es für Bisky gewesen sein, die Rolle<br />

von Königin Luise als modernes<br />

preußisches Role Model in Berlin zu<br />

beschreiben. Schließlich hatte es<br />

der Bildhauer Johann Gottfried<br />

Schadow in seiner Prinzessinnengruppe<br />

mit Luise und ihrer Schwester<br />

Friederike,die heute als Partygirl<br />

der Preußengeschichte gilt, schon<br />

früh vorgegeben. Bei Bisky aber<br />

kommt Luise lediglich am Rande vor,<br />

die <strong>Berliner</strong> Emanzipationsgeschichte,<br />

insbesondere auch die der<br />

<strong>Berliner</strong> Juden, rief andereweibliche<br />

Akteure wie etwa Rahel Varnhagen<br />

auf den Plan.<br />

Einmarkantes Merkmal der <strong>Berliner</strong><br />

Geschichte in deren verschiedenen<br />

Epochen ist der Bevölkerungszuwachs.<br />

Wie ein roter Faden zieht<br />

sich die Wohnraumfrage als dauernd<br />

anwesendes kommunales Problem<br />

durch das Buch. Eine Besonderheit<br />

Berlins besteht darin, dass die arme<br />

Bevölkerung seit jeher im Zentrum<br />

siedelte, während die Wohlhabenden<br />

in die Randbezirke auswichen.<br />

Undwer die akuten Wohnungsprobleme<br />

ins Verhältnis setzt zu der in<br />

Berlin unterrepräsentierten Ausbildung<br />

vonWohneigentum, der findet<br />

bei Bisky genügend Hinweise, dass<br />

die Ursachen dafür sehr viel älter<br />

sind als die beschleunigten Verhältnisse<br />

zur Zeit der Industrialisierung.<br />

Und die Nazi-Zeit, die Nachkriegsjahreund<br />

das Leben in der geteilten<br />

Stadt? Sie nehmen bei Bisky<br />

die opulente zweite Hälfte des Buches<br />

ein, für die ganz ausdrücklich<br />

die Kunst der gekonnten Komposition<br />

gefragt war. Scheinbar mühelos<br />

entgeht Bisky der Gefahr,inideologischen<br />

Dichotomien zu verharren,<br />

die bis heute die Berlin-Erzählung<br />

dominieren. Den weitsichtigen und<br />

menschenfreundlichen Entscheidungen<br />

des russischen Stadtkommandanten<br />

Nikolai Bersarin, der wenige<br />

Tage nach Kriegsende die Theater<br />

wieder öffnen ließ und große<br />

Sportveranstaltungen ermöglichte,<br />

gewährtBisky hinreichenden Raum,<br />

ohne die düstere Atmosphäre eines<br />

in weiten Teilen auch rechtsfreien<br />

Berlins zu verschweigen, in dem Vergewaltigungen<br />

durch russische Soldaten<br />

die Frauen in Angst und Schrecken<br />

versetzte. Bisky kommentiert<br />

nicht, sondernlässt die Berichte von<br />

Zeitzeuginnen für sich sprechen.<br />

„Schaut auf diese Stadt“<br />

Auf die hinreichend bekannte Neigung<br />

der <strong>Berliner</strong> zur Selbstmythisierung<br />

antwortet Bisky mit klugen,<br />

oft lakonischen Zusammenfassungen.<br />

„Der <strong>Berliner</strong> Nachkrieg war<br />

eine Zeit der Paradoxien. Der Wiederaufbau<br />

ging unaufhörlich mit der<br />

Teilung einher,jeder Schritt der Normalisierung<br />

verfestigte einen anormalen<br />

Zustand, die Stadt verlor viel<br />

vonihrer Bedeutung als wirtschaftliches<br />

und politisches Zentrum und<br />

konnte dennoch der Aufmerksamkeit<br />

der Weltöffentlichkeit sicher<br />

sein. Dem Volk von Berlin blieb gar<br />

nichts anderes übrig, als sich neu zu<br />

erfinden.“ Ernst Reuters paradigmatische<br />

Rede an die „Völker der Welt“<br />

erscheint so weniger als emphatischer<br />

Hilferuf, als der er wahrgenommen<br />

wurde, sondern als geschickt<br />

inszeniertes geschichtspolitisches<br />

Narrativ.<br />

Undwährend die Zeit der Teilung<br />

ideologisch gewollte Differenzierungen<br />

hervorbringt, wird Bisky nicht<br />

müde, die Analogien und Ähnlichkeiten<br />

herauszustellen. Der Soundtrack<br />

von 1968 jedenfalls war derselbe.Man<br />

hörte die Stones,Bob Dylan<br />

und Joan Baez –auf beiden Seiten<br />

der Mauer.<br />

Die große Welt<br />

des Fußballs<br />

im Kopf<br />

Tonio Schachingers Roman<br />

„Nicht wie ihr“<br />

VonJudith von Sternburg<br />

Fußballschauen und Fußballspielen<br />

haben, denkt Ivo, nicht so viel<br />

miteinander zu tun, wie die Leute<br />

meinen, die davon ausgehen, dass er<br />

gut ist, weil er den Fußball liebt. „Um<br />

gut zu werden, muss man den Fußball<br />

nicht lieben, man muss ihn aushalten!<br />

Jedes Kind, jeder blade Fan<br />

liebt den Fußball mehr als die Spieler,weil<br />

sie nicht wissen, wie dreckig<br />

es wirklich zugeht, wie dumm alles<br />

ist, wie viel Arbeit hinter allem steckt.<br />

Wie viel davon umsonst ist.“ Da Ivo<br />

den Fußball aber so unzweifelhaft<br />

liebt, gehören diese Sätzezuden vielen<br />

Gedanken, die ihm durch das Gehirn<br />

wehen, und dann kommen<br />

schon wieder die nächsten. Mehr als<br />

die bladen Fans gehen Ivo zum Beispiel<br />

die Journalisten auf die Nerven.<br />

Werüber Fußball spricht, spricht<br />

offenkundig über die Gesellschaft,<br />

und Tonio Schachinger findet in<br />

„Nicht wie ihr“ dafür einen so naheliegenden<br />

wie selten begangenen<br />

Weg. Er gibt Gelegenheit, 300 Seiten<br />

lang so dicht neben dem Kopf des<br />

Fußballprofis Ivo<br />

Trifunovic zu<br />

verbringen, dass<br />

man hinterher<br />

praktisch alles<br />

über ihn weiß,<br />

was er selbst<br />

über sich weiß.<br />

Dasist einiges.<br />

Tonio Schachinger:Nicht<br />

wie ihr.<br />

Roman. Kremayr &<br />

Scheriau, Wien<br />

2019. 302 S.,<br />

22,90 Euro.<br />

Der österreichische<br />

Nationalspieler<br />

Ivo ist<br />

derzeit bei Everton<br />

unter Vertrag,<br />

mit 20 ist er<br />

zu Chelsea gekommen,<br />

er kennt die großeWelt des<br />

Fußballs und die Wellenbewegungen<br />

einer Karriere, die als nächstes<br />

nach China oder Rom führen<br />

könnte.Ivo will nicht nach China. Er<br />

war Stürmer,heute spielt er auf dem<br />

rechten Flügel, was besser für ihn ist.<br />

Ivo hat eine Frau, Jessy, und zwei<br />

Kinder, dazu gegenwärtig eine Art<br />

Geliebte,und er hat Zeit, sich ihr und<br />

seinen Gedanken zu widmen, weil er<br />

rotgesperrt ist und außerdem Rückenprobleme<br />

hat. Ivohat viele weitere<br />

Verwandte, Freunde von früher<br />

und von heute, erhat etliche Autos<br />

und unglaublich viel Geld.<br />

Im Laufe des Romans wirdIvo 27,<br />

so alt ist Schachinger,der mit seinem<br />

Debütroman als Überraschungskandidat<br />

auf die Shortlist des Deutschen<br />

Buchpreises gelangt ist. Für einen<br />

Schriftsteller ist 27 fast noch ein<br />

verdächtiges Alter.Für einen Fußballer<br />

ist 27 hingegen„ein komisches Alter“,<br />

denkt Ivo. Zu den Dingen, die er<br />

hasst, gehört die Pflicht des Vereinsfußballers,<br />

sich weiterzuentwickeln.<br />

„Ivo hätte gerne das Leben von einem<br />

Bondfilm, ohne sich zu entwickeln,<br />

ohne sich zu verändern, ohne<br />

sich zu erinnern. Im Abspann mit einer<br />

Frau zu schlafen, in die man verliebt<br />

ist, ohne daran im nächsten<br />

Vorspann einen einzigen Gedanken<br />

zu verschwenden.“ Ivo interessiert<br />

sich sehr für Sex. Es gibt gute Sexszenen<br />

im Buch. Vorallem aber ist Ivos<br />

Sprachempfinden ausgezeichnet.<br />

Dass Schachinger souffliert, merkt<br />

man nach kurzerZeit nicht mehr.Einen<br />

Fehlgriff wie auf der Buchrückseite,auf<br />

der wirklich steht, das Buch<br />

sei „rotzig, deep &fresh“, würde er<br />

sich nie leisten, gerade weil er Sinn<br />

für Ironie und ihreGrenzen hat.

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