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Wina Februar 2020

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IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN

© Pablo Rudich/privat

Pablo Rudich:

DAZWISCHENDASEIN.

Jüdisches Leben

zwischen Czernowitz,

Wien und Montevideo.

Mandelbaum Verlag

2019, 142 S., 20 €

Es gab weder Briefe noch Tagebücher,

und dem persönlichen Gespräch

über die Jugend in Wien

verweigerte sich der jüdische Vater im

uruguayischen Exil. Dennoch wollte der

Sohn, der 1964 in Montevideo geboren

wurde und 1978 in die Geburtsstadt

seines Vaters übersiedelte, die Familiengeschichte

recherchieren. Als Historiker

wählte Pablo Rudich für die Spurensuche

zum Lebensweg seiner jüdischen

Großeltern und seines Vaters den akademischen

Zugang: In seinem Buch DA-

ZWISCHENDASEIN. Jüdisches Leben

zwischen Czernowitz, Wien und Montevideo

stellt er das Schicksal einer jüdischen

Familie exemplarisch in den größeren

Zusammenhang von Vertreibung,

Flucht und Exil.

Die „globale“ Bukowina und Czernowitz,

die Kriegsflüchtlinge im Ersten

Weltkrieg sind ebenso Thema wie die

„Zugehörigkeit und Identitätskonstruktionen

im Lichte von Staatsbürgerschaft

und Heimatrecht“. Aber auch Zufälle

interessieren Rudich: „Ich war dreizehn

Jahre alt, als ich in Wien ankam, mein

Vater Alfred Rudich dreiundfünfzig. Als

er 1938 gezwungenermaßen aus Wien

fliehen musste, kam er als Dreizehnjähriger

in meiner Geburtsstadt Montevideo

an, sein Vater, Wolf Rudich, war damals

dreiundfünfzig“, erzählt der Autor.

Dem Vater sollte es auch nicht nützen,

dass er seine Erinnerungen verdrängte

und diese seinen Kindern vorenthielt.

„In der Gegenwart holt uns des Vaters

Vergangenheit ein. Wie aus Zufall hat

jedes von uns vier erwachsenen Kindern

nun eine Wohnung im 2. Bezirk, der Leopoldstadt“,

so Pablo. „Ein großer Teil dieses

Bezirks ist seit der Anlage des ersten

jüdischen Ghettos Anfang des 17. Jahrhunderts

mit der Geschichte der Juden

und Jüdinnen eng verbunden.“

Die Auswirkungen

von Migration

Wie man sich mit

spärlichem Material eine

Familienchronik bastelt,

zeigt der Historiker

Pablo Rudich in

seiner Masterarbeit auf.

Von Marta S. Halpert

Die Großeltern des Historikers, Serafine

König und Wolf Rudich, stammten

aus Czernowitz, aus dem östlichen Randgebiet

der Habsburgermonarchie. Die

Hauptstadt der Bukowina, ein Hort des

blühenden jüdischen Lebens, der Vielsprachigkeit

und einer immens reichen

Kulturtradition, gehört heute zur Ukraine.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs

1914 mussten die Großeltern vor einer

russischen Offensive nach Wien flüchten.

1918 kehrten sie vorübergehend nach

Czernowitz zurück, ließen sich aber später

in Wien an verschiedenen Adressen

nieder. „Mein Großvater war Jurist, viel

mehr ist den vorhandenen Quellen nicht

zu entnehmen. Nur dass ein beträchtlichen

Teil von ‚Buko-Wienern‘ damals in

Wien lebte“, lacht Pablo Rudich, der später

auch in Barcelona und Stuttgart lebte.

In dieser Masterarbeit, die zum gut

leserlichen Buch wurde, bemüht er sich,

das Schicksal von Jüdinnen und Juden

mit ähnlich gelagerten Lebenssituationen

nachzuzeichnen. „Diese Untersuchung

hat den Anspruch, nicht nur die

Frage der jüdischen Identität zu behandeln,

sondern in einem breiteren Sinn den

Fokus auf die Auswirkungen von Migrationen

auf die individuelle und kollektive

Identität der betroffenen Menschen

zu lenken“, schreibt Pablo Rudich.

Er stellt sich angesichts der – erzwungenen

– kosmopolitischen Lebenssituation

seiner Familie die Frage, wie Migranten

von ihrem Zielland beeinflusst

werden und umgekehrt dieses beeinflussen.

„Dass dieser kulturelle Austausch negative

Folgen haben soll, ist ein mani-

pulatives, häufig von Angst schürenden

Politikern hervorgebrachtes Argument“,

lautet das Fazit des Historikers.

Pablo Rudich, der auch als Fremdenführer

tätig ist, hat zwei Söhne und eine

Tochter; seine Schwester Julieta Rudich

ist Lateinamerika-Expertin im ORF-

Fernsehen und gestaltet umfassende Reportagen

für das Weltjournal. „Obwohl

der Vater uns nie explizit etwas von jüdischer

Identität mitgegeben hat, sind wir

ohne eindeutige Absicht im bis 1938 jüdischsten

Viertel Wiens angekommen,

Pablo Rudich (rechts) mit seinem Vater Wolf

Ruddich und seinen drei Geschwistern.

man könnte auch sagen ‚beheimatet‘. Und

das, obwohl die Rückkehr meines Vater

nach Wien für seine Kinder zu einer Entwurzelung

von deren eigenem Geburtsland

Uruguay führte.“ Prägend war für

die vier Rudich-Geschwister auch, dass

sie aus einer nomadischen Genealogie

stammen und zwischen 1973 und 1978

dreimal das Land gewechselt haben. „So

wird für mich die wiederholt gestellte

Frage, woher ich bin, zu welchem Land

ich mich zugehörig fühle, immer schwerer

zu beantworten.“

wına-magazin.at

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