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Wina Februar 2020

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LITERARISCHER EXPRESSIONISMUS

Regisseurin und Hauptdarsteller:

Mateja Koležnik und

Itay Tiran. Der israelische

Schauspieler kreierte den

Mörder in Maria Lazars Der

Henker.

© bpk / Staatsgalerie Stuttgart

„Sie hat damals schon

begriffen, welche Ausrede

von den Akteuren

danach benutzt werden

würde: ‚Ich habe

meine Pflicht getan.‘“

Mateja Koleznik

walds Landerziehungsheim am Semmering

ihren ersten Roman Die Vergiftung,

der 1920 erscheint. „Dieser fulminante

erste Roman ist eine der gnadenlosesten

Abrechnungen mit der bürgerlichen

Lebenswelt in Österreich vor Beginn des

Ersten Weltkriegs und damit einer der

überzeugendsten weiblichen Beiträge

zum literarischen Expressionismus“,

schreibt der 1990 in München geborene

Germanist Albert Eibl, der den programmatischen

Verlag „Das vergessene Buch“

in Wien betreibt und dem die erneute Publikation

von Die Vergiftung im Jahr 2014

zu danken ist.

Als Lazar in den 1920er-Jahren für ihren

Roman Viermal ich keinen Verleger findet,

wendet sie sich der journalistischen

Arbeit zu und veröffentlicht bis 1933 über

hundert Beiträge im Wiener Tag und fallweise

auch in der Arbeiter-Zeitung. Trotz

ihres Renommees als scharfsichtige Journalistin

befindet sie sich ständig in finanziellen

Nöten. 1923 heiratet sie Friedrich

Strindberg, den Sohn Frank Wedekinds

und Frieda Uhls, die mit August Strindberg

verheiratet war. Die Ehe, der Tochter

Judith entstammt, wird bald wieder

geschieden. Die schwedische Staatsbürgerschaft,

die sie durch die Heirat erworben

hatte, sollte ihr später das Leben retten.

Als alleinerziehende Mutter kämpft

Lazar um ihren Lebensunterhalt: Vergeblich

versucht sie dem Zsolnay Verlag Übersetzungen

der skandinavischen Literatur

schmackhaft zu machen. Genia Schwarzwald

interveniert mehrmals für sie. Der

Kiepenheuer Verlag bekundet tatsächlich

Interesse für die Übertragungen aus dem

Dänischen und Schwedischen. Lazar fasst

den Entschluss, ihren nächsten Roman Veritas

verhext die Stadt unter dem nordischen

Pseudonym Esther Grenen erscheinen zu

lassen, und gibt sich als dänische Übersetzerin

aus. „Diese raffinierte Taktik, sich auf

dem literarischen Markt zu behaupten, ist

nach Lazars Antwort auf die abwartende

Haltung großer Verlage angesichts des aufsteigenden

Nationalsozialismus und Antisemitismus

zu sehen“, zeigt sich der Germanist

Johann Sonnleitner überzeugt. Er

widmet seine Recherchen als Professor für

neuere deutsche Literatur an der Universität

Wien zahlreichen jüdischen Exilautorinnen.

Schon Mitte 1933 emigriert Lazar angesichts

der Sorge um den Aufstieg der

Nazis mit ihrer Tochter sowie Bertolt

Brecht und Helene Weigel nach Dänemark.

Sie wohnen alle in einem Haus bei

der Schriftstellerin Karin Michaëlis auf der

Insel Fünen. 1935 übersiedelt Lazar nach

Kopenhagen, 1939 flieht sie vor den vorrückenden

Nazis nach Schweden, wo sie

in einem Archiv arbeitet. Aus einem ihrer

letzten, sehr berührenden Gedichte – Die

schöne Stadt – wird offensichtlich, warum

sie 1945 eine Rückkehr nach Österreich

ablehnt: Zwei ihrer Schwestern wurden

in der Schoah ermordet. An einer unheilbaren

Knochenkrankheit leidend, nimmt

sie sich am 30. März 1948 in Stockholm

das Leben.

In ihrem großen Exilroman Die Eingeborenen

von Maria Blut befasst sie sich

mit der schleichenden Entwicklung des

Nazismus in der österreichischen Provinz.

Ein Kapitel daraus erschien 1937 in der

von Brecht, Lion Feuchtwanger und Willi

Bredel herausgegebenen deutschsprachigen

Moskauer Exilzeitschrift Das Wort.

Mit der Drucklegung dieses Werkes 2015

hat der junge Verleger Albert Eibl einen

weiteren großen Schritt zur Wiederentdeckung

dieser völlig zu Unrecht in Vergessenheit

geratenen Autorin gemacht.

Schmales, starkes Gesamtwerk. Maria

Lazars Gesamtwerk umfasst acht Romane,

drei Dramen, eine Zitatensammlung, Gedichte,

einige Essays und zahlreiche Artikel

als Publizistin.

Trotz ihrer Vernetzung mit der Wiener

Kunstszene funktionierte die Ausgrenzungs-

und Abwertungsmaschinerie der

männlich dominierten Gesellschaft: Maria

Lazar fehlt in fast allen Anthologien

und Sammelbänden. „Man fragt sich, wie

so eine Begabung in Vergessenheit geraten

konnte“, wundert sich Dramaturgin Sabrina

Zwach, deren Recherchen sie auch

in das Thomas-Mann-Haus in Los Angeles

führten: „Dort zuckte man nur mit den

Achseln, als ich nach Maria Lazar fragte.

Das ist ein Phänomen, denn man muss viel

Kraft aufwenden, um sie in all diesen Männerbiografien

zu ignorieren. Aus Schwarzwalds

Salon und über ihre Literatur hatte

sie enge intellektuelle Beziehungen zu den

Großen dieser Zeit.“

In ihrem Einakter Der Henker stellt Maria

Lazar fünf Männer und nur eine Frau

auf die Bühne – das hat, meint Regisseurin

Mateja Koležnik, mehr als nur gesellschaftspolitische

Bedeutung: „Diese Männer

sprechen nur über ihre Pflicht, keiner

fühlt sich schuldig, keiner redet von einer

ideologischen Überzeugung, geschweige

denn über Leidenschaft. Faszinierend

ist, in welcher präzisen, modernen Sprache

sich diese Täter artikulieren.“ Als einen

Glücksfall dieser derzeit laufenden

Produktion bezeichnet Sabrina Zwach

das Zusammenwirken von Koležnik und

dem israelischen Schauspieler Itay Tiran in

der Hauptrolle des Mörders. „Mateja und

Itay kommen aus Gesellschaften, in denen

kriegerische Auseinandersetzungen stattgefunden

haben“, erzählt Zwach, und die

angesprochene Regisseurin fügt hinzu: „Jedes

Mal, wenn ich sagte, ich kenne Menschen

mit dem posttraumatischen Syndrom,

hat Itay gerufen ‚ich auch‘.“

wına-magazin.at

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