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Wina Februar 2020

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MEN T SCHEN: SHOSHANA DUIZEND-JENSEN

„Innerhalb der Halacha haben

Frauen ungeahnte Möglichkeiten“

Als eine der ersten Frauen wurde Shoshana Duizend-Jensen im Frühjahr

2019 Mitglied des Tempelvorstands der IKG. Die Historikerin, die sich auf

Wiener jüdisches Leben spezialisiert, erhielt im selben Jahr den Leon-

Zelman-Preis. Redaktion und Fotografie: Ronnie Niedermeyer

WINA: Sie wollten vor der Schiffschul fotografiert werden.

Welchen Bezug haben Sie zu diesem Haus?

Shoshana Duizend: Die Schiffschul – 1864 von ungarisch-jüdischen

Zuwanderern in der Großen Schiffgasse 8

errichtet – verkörpert für mich das konsequente Eintreten

für Thoratreue inmitten einer bereits sehr antisemitischen,

feindseligen und gewaltbereiten Umwelt. In der Schiffschul

wurde Gebet und Talmudlernen gelebt, sie vergab

Kaschrutzertifikate für die frommen jüdischen Institutionen,

und sie bildete Generationen von Talmud-Thora-

Schülern aus. Während des Novemberpogroms wurde das

Hauptgebäude grausam gesprengt: Noch heute klafft an

diesem Platz nahe des Donaukanals eine wild verwachsene

Baulücke. Nur das dazugehörige Gebäude des ehemaligen

Beith Hamidrasch ist heute noch übrig. Sogar

dieses steht noch immer nicht unter Denkmalschutz, ist

also dem Verfall preisgegeben.

Sie beschäftigen sich beruflich mit der Geschichte des Judentums

in Wien. Erleben Sie dabei Situationen, bei denen

Ihr objektiver Zugang als Historikerin von Ihrem persönlichen

Zugang als Jüdin beeinflusst wird?

❙ Wenn ich jüdische Vereine erforsche und ihre Akten lese,

erfreue ich mich an dem vergangenen vielfältigen jüdischen

Leben, das darin abgebildet wird. Besonders beeindruckend

war die große Anzahl der wohltätigen Organisationen in

Wien – von Wöchnerinnen bis zu Greisinnen und Greisen

fanden viele dort Unterstützung und Fürsorge. Die Adressen

aller Synagogen und Bethäuser Wiens schwirren mir

im Kopf herum. Ich versetze mich in eine Art Zeitreise

und versuche anhand von Bauplänen und Beschreibungen

zu rekonstruieren, welche Atmosphäre dort vorhanden war.

Diese Beschäftigung ist aber auch schmerzlich, da das jüdische

Leben Wiens in seiner damaligen Form für immer

verschwunden ist.

Dennoch konnten Jahrhunderte an Diskriminierung und Verfolgung

die jüdische Präsenz in Wien nicht auslöschen. Welche

Bedeutung hat Wien für Jüdinnen und Juden – und welche

Bedeutung hat umgekehrt das Judentum für Wien?

❙ Bis zur großen Katastrophe der Schoah haben beide Seiten

enorm voneinander profitiert. Wie ein roter Faden zieht

es sich durch die Geschichte Wiens: Juden haben einen

wesentlichen Teil der Gesellschaft und Ökonomie geprägt

und gefördert. Dafür erhielten sie auch relative Freiheiten,

sich weiterzuentwickeln und – wenn sie es wollten – auch

ihre Identität beizubehalten. Auch nach 1945 lässt sich dieses

Phänomen beobachten, als Rückkehrer aus den KZs in

Wien wieder prosperierende Unternehmen gründeten. Im

Wiener Stadt- und Landesarchiv sind tausende Beweise

dieser staunenswerten Entwicklung zu finden.

Für Außenstehende scheint das orthodoxe Judentum sehr

traditionelle Rollenbilder für Männer und Frauen zu propagieren.

Inwieweit entspricht das der alltäglichen Realität?

❙ Die Rollenbilder sind oft nicht sehr gut zu verstehen, wenn

man sie nicht selbst lebt. Wer zum Beispiel weiß, dass Frauen

davon befreit sind, ihre täglichen Gebete an bestimmten

ortsgebundenen Plätzen wie Synagogen zu verrichten, sondern

dies neben und mit ihren Kindern zu Hause tun können,

wird diese Erleichterung zu schätzen wissen. Ich denke,

dass es in vielen orthodoxen Familien schon weit fortgeschritten

ist, sich auch als Vater im Haushalt und in der

Kinderbetreuung einzubringen. Die Tradition, dass Männer

Thora lernen und Frauen Berufen nachgehen, hat doch auch

etwas sehr Selbstbestimmendes für Frauen. Wenn ich zu

Wohltätigkeitsveranstaltungen der orthodoxen Frauen gehe,

bewundere ich, wie perfekt sie sich selbst organisieren und

ihr eigenes Leben führen. Zudem ist es ja für Frauen nicht

verboten, Thora und Talmud zu studieren. Innerhalb des

Rahmens der Halacha haben Frauen ungeahnte Möglichkeiten,

ihre Identität zu wahren, Großartiges zu leisten und

in der Gesellschaft einen gleichberechtigten Platz zu finden.

Welche Entwicklungen würden Sie sich dennoch wünschen?

❙ Wir als fromme Jüdinnen und Juden dürfen allgemeine

gesellschaftliche Anliegen nicht außer Acht lassen. Wer

weiterhin den Klimawandel leugnet oder als Jude bzw. Jüdin

FPÖ wählt, weil diese Partei angeblich israelfreundlich

ist – dafür habe ich kein Verständnis.

wına-magazin.at

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