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MEN T SCHEN: SHOSHANA DUIZEND-JENSEN
„Innerhalb der Halacha haben
Frauen ungeahnte Möglichkeiten“
Als eine der ersten Frauen wurde Shoshana Duizend-Jensen im Frühjahr
2019 Mitglied des Tempelvorstands der IKG. Die Historikerin, die sich auf
Wiener jüdisches Leben spezialisiert, erhielt im selben Jahr den Leon-
Zelman-Preis. Redaktion und Fotografie: Ronnie Niedermeyer
WINA: Sie wollten vor der Schiffschul fotografiert werden.
Welchen Bezug haben Sie zu diesem Haus?
Shoshana Duizend: Die Schiffschul – 1864 von ungarisch-jüdischen
Zuwanderern in der Großen Schiffgasse 8
errichtet – verkörpert für mich das konsequente Eintreten
für Thoratreue inmitten einer bereits sehr antisemitischen,
feindseligen und gewaltbereiten Umwelt. In der Schiffschul
wurde Gebet und Talmudlernen gelebt, sie vergab
Kaschrutzertifikate für die frommen jüdischen Institutionen,
und sie bildete Generationen von Talmud-Thora-
Schülern aus. Während des Novemberpogroms wurde das
Hauptgebäude grausam gesprengt: Noch heute klafft an
diesem Platz nahe des Donaukanals eine wild verwachsene
Baulücke. Nur das dazugehörige Gebäude des ehemaligen
Beith Hamidrasch ist heute noch übrig. Sogar
dieses steht noch immer nicht unter Denkmalschutz, ist
also dem Verfall preisgegeben.
Sie beschäftigen sich beruflich mit der Geschichte des Judentums
in Wien. Erleben Sie dabei Situationen, bei denen
Ihr objektiver Zugang als Historikerin von Ihrem persönlichen
Zugang als Jüdin beeinflusst wird?
❙ Wenn ich jüdische Vereine erforsche und ihre Akten lese,
erfreue ich mich an dem vergangenen vielfältigen jüdischen
Leben, das darin abgebildet wird. Besonders beeindruckend
war die große Anzahl der wohltätigen Organisationen in
Wien – von Wöchnerinnen bis zu Greisinnen und Greisen
fanden viele dort Unterstützung und Fürsorge. Die Adressen
aller Synagogen und Bethäuser Wiens schwirren mir
im Kopf herum. Ich versetze mich in eine Art Zeitreise
und versuche anhand von Bauplänen und Beschreibungen
zu rekonstruieren, welche Atmosphäre dort vorhanden war.
Diese Beschäftigung ist aber auch schmerzlich, da das jüdische
Leben Wiens in seiner damaligen Form für immer
verschwunden ist.
Dennoch konnten Jahrhunderte an Diskriminierung und Verfolgung
die jüdische Präsenz in Wien nicht auslöschen. Welche
Bedeutung hat Wien für Jüdinnen und Juden – und welche
Bedeutung hat umgekehrt das Judentum für Wien?
❙ Bis zur großen Katastrophe der Schoah haben beide Seiten
enorm voneinander profitiert. Wie ein roter Faden zieht
es sich durch die Geschichte Wiens: Juden haben einen
wesentlichen Teil der Gesellschaft und Ökonomie geprägt
und gefördert. Dafür erhielten sie auch relative Freiheiten,
sich weiterzuentwickeln und – wenn sie es wollten – auch
ihre Identität beizubehalten. Auch nach 1945 lässt sich dieses
Phänomen beobachten, als Rückkehrer aus den KZs in
Wien wieder prosperierende Unternehmen gründeten. Im
Wiener Stadt- und Landesarchiv sind tausende Beweise
dieser staunenswerten Entwicklung zu finden.
Für Außenstehende scheint das orthodoxe Judentum sehr
traditionelle Rollenbilder für Männer und Frauen zu propagieren.
Inwieweit entspricht das der alltäglichen Realität?
❙ Die Rollenbilder sind oft nicht sehr gut zu verstehen, wenn
man sie nicht selbst lebt. Wer zum Beispiel weiß, dass Frauen
davon befreit sind, ihre täglichen Gebete an bestimmten
ortsgebundenen Plätzen wie Synagogen zu verrichten, sondern
dies neben und mit ihren Kindern zu Hause tun können,
wird diese Erleichterung zu schätzen wissen. Ich denke,
dass es in vielen orthodoxen Familien schon weit fortgeschritten
ist, sich auch als Vater im Haushalt und in der
Kinderbetreuung einzubringen. Die Tradition, dass Männer
Thora lernen und Frauen Berufen nachgehen, hat doch auch
etwas sehr Selbstbestimmendes für Frauen. Wenn ich zu
Wohltätigkeitsveranstaltungen der orthodoxen Frauen gehe,
bewundere ich, wie perfekt sie sich selbst organisieren und
ihr eigenes Leben führen. Zudem ist es ja für Frauen nicht
verboten, Thora und Talmud zu studieren. Innerhalb des
Rahmens der Halacha haben Frauen ungeahnte Möglichkeiten,
ihre Identität zu wahren, Großartiges zu leisten und
in der Gesellschaft einen gleichberechtigten Platz zu finden.
Welche Entwicklungen würden Sie sich dennoch wünschen?
❙ Wir als fromme Jüdinnen und Juden dürfen allgemeine
gesellschaftliche Anliegen nicht außer Acht lassen. Wer
weiterhin den Klimawandel leugnet oder als Jude bzw. Jüdin
FPÖ wählt, weil diese Partei angeblich israelfreundlich
ist – dafür habe ich kein Verständnis.
wına-magazin.at
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