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Keine höhere Macht,
sondern ganz normale
Menschen, haben das Tor
zur Hölle von Auschwitz-
Birkenau geschmiedet.
Editorial
Vor 75 Jahren haben die Soldaten der sowjetischen Armee die
Tore zur Unterwelt geöffnet und die wenigen Überlebenden
des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau von ihren unvorstellbaren
Qualen befreit.
Auschwitz wurde zur Zäsur in der Geschichte der westlichen Welt
und steht für all das, was nicht Menschlichkeit ist. Für das Unvorstellbare
und Unbegreifbare. Für das Ende einer Gesellschaft, die sich aus
den Fängen dieser Hölle nie wieder wirklich befreien konnte.
Auschwitz stellt uns jene Fragen, die sich davor niemand
zu stellen getraut hätte: Kann noch an G-tt oder an das Gute
im Menschen geglaubt werden? Gibt es noch Kunst nach
Auschwitz? Haben die Überlebenden die Hölle wirklich
überlebt, und wie weit tragen wir sie alle ein Stück in uns
weiter? Was macht Auschwitz mit den Nachgeborenen? Und
was bedeuten Schuld, Pflicht und Vergebung nach den Krematorien?
Doch die Antworten auf all diese Fragen können
weder Auschwitz noch die dort vernichteten Seelen noch die
immer leiser werdenden Zeitzeugen geben. Und vor allem
kann die Frage nicht beantwortet werden, wie all das geschehen
konnte. Wie wurden ganz normale Menschen zu hassenden,
mordenden Bestien werden – und wie konnten Millionen
zu Opfern dieses tobend-geordneten Wahns werden?
Wir haben unzählige Antworten darauf – doch die eine
Antwort gibt es nicht. Hätten wir sie, so hätte die Gesellschaft
danach alles getan, um auch nur annähernd Ähnliches
zu verhindern – doch Tötung aus „rassistisch motivierten“
Gründen gab es auch nach 1945 – und auch in Europa.
Die Zahl der Chancen, Hoffnungen, Lieben und der Gelächter,
die in Auschwitz vernichtet wurde, ist nicht messbar
und vor allem nicht begreifbar. Generationen tragen die
Vernichtungslager in ihren Genen – ihr Denken, Fühlen
und Glauben wird noch durch die Gaskammern mitbestimmt.
Auschwitz ist ein Ort, ein Friedhof, eine Gedenkstätte.
Auschwitz ist eine Warnung, eine Alarmglocke, das
lauteste Signal, um daran zu erinnern, wozu der Mensch
fähig ist, wohin Rassismus, Verleumdung humanistischer
Werte und moralischer Zerfall führen.
75 Jahre nach der Befreiung leben wir in einer Welt, in der gesellschaftliche
Regeln und Normen infrage gestellt werden. In der die Gesellschaften
sich immer mehr polarisieren und isolieren. Eine Welt der
Ismen, die immer heftiger das Sprechen, Denken und Fühlen vergiften.
Die Gedenkkultur sollte sich heute nicht mehr im Erinnern erschöpfen,
denn sie ist eines der stärksten Instrumente im Kampf gegen den neuerlichen
Zerfall humanistischer und liberaler Werte. Sie hat die Möglichkeit,
uns alle daran zu erinnern, dass das Schienennetz in die Krematorien
über viele kleine Wiesenwege führte und dass die Aufseher
in Auschwitz nicht über Nacht durch böse Magie plötzlich verzaubert
wurden, sondern ganz normale Menschen waren, die aus Gier und Neid
und angeheizt durch das Streichholz populistischer Parolen ihre moralische
Grenzen zunehmend fallen ließen. Wir leben heute in einer anderen
Welt, und es sind nicht die gleichen Menschen. Aber es ist das gleiche
Böse. Doch das Böse ist kein Wesen, ist nicht Auschwitz, sind nicht
die miesen Ismen. Das Böse ist vermutlich etwas, das nur wir Menschen
im Menschen erkennen und aufhalten können. Denn das Böse ist keine
höhere Macht, sondern sehr menschlich.
Julia Kaldori
„Es gibt die
Ungeheuer,
aber sie sind zu
wenige, als dass
sie wirklich gefährlich
werden
könnten. Wer
gefährlich ist,
das sind die
normalen
Menschen“
Primo Levi
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wına-magazin.at
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