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Wina Februar 2020

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Keine höhere Macht,

sondern ganz normale

Menschen, haben das Tor

zur Hölle von Auschwitz-

Birkenau geschmiedet.

Editorial

Vor 75 Jahren haben die Soldaten der sowjetischen Armee die

Tore zur Unterwelt geöffnet und die wenigen Überlebenden

des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau von ihren unvorstellbaren

Qualen befreit.

Auschwitz wurde zur Zäsur in der Geschichte der westlichen Welt

und steht für all das, was nicht Menschlichkeit ist. Für das Unvorstellbare

und Unbegreifbare. Für das Ende einer Gesellschaft, die sich aus

den Fängen dieser Hölle nie wieder wirklich befreien konnte.

Auschwitz stellt uns jene Fragen, die sich davor niemand

zu stellen getraut hätte: Kann noch an G-tt oder an das Gute

im Menschen geglaubt werden? Gibt es noch Kunst nach

Auschwitz? Haben die Überlebenden die Hölle wirklich

überlebt, und wie weit tragen wir sie alle ein Stück in uns

weiter? Was macht Auschwitz mit den Nachgeborenen? Und

was bedeuten Schuld, Pflicht und Vergebung nach den Krematorien?

Doch die Antworten auf all diese Fragen können

weder Auschwitz noch die dort vernichteten Seelen noch die

immer leiser werdenden Zeitzeugen geben. Und vor allem

kann die Frage nicht beantwortet werden, wie all das geschehen

konnte. Wie wurden ganz normale Menschen zu hassenden,

mordenden Bestien werden – und wie konnten Millionen

zu Opfern dieses tobend-geordneten Wahns werden?

Wir haben unzählige Antworten darauf – doch die eine

Antwort gibt es nicht. Hätten wir sie, so hätte die Gesellschaft

danach alles getan, um auch nur annähernd Ähnliches

zu verhindern – doch Tötung aus „rassistisch motivierten“

Gründen gab es auch nach 1945 – und auch in Europa.

Die Zahl der Chancen, Hoffnungen, Lieben und der Gelächter,

die in Auschwitz vernichtet wurde, ist nicht messbar

und vor allem nicht begreifbar. Generationen tragen die

Vernichtungslager in ihren Genen – ihr Denken, Fühlen

und Glauben wird noch durch die Gaskammern mitbestimmt.

Auschwitz ist ein Ort, ein Friedhof, eine Gedenkstätte.

Auschwitz ist eine Warnung, eine Alarmglocke, das

lauteste Signal, um daran zu erinnern, wozu der Mensch

fähig ist, wohin Rassismus, Verleumdung humanistischer

Werte und moralischer Zerfall führen.

75 Jahre nach der Befreiung leben wir in einer Welt, in der gesellschaftliche

Regeln und Normen infrage gestellt werden. In der die Gesellschaften

sich immer mehr polarisieren und isolieren. Eine Welt der

Ismen, die immer heftiger das Sprechen, Denken und Fühlen vergiften.

Die Gedenkkultur sollte sich heute nicht mehr im Erinnern erschöpfen,

denn sie ist eines der stärksten Instrumente im Kampf gegen den neuerlichen

Zerfall humanistischer und liberaler Werte. Sie hat die Möglichkeit,

uns alle daran zu erinnern, dass das Schienennetz in die Krematorien

über viele kleine Wiesenwege führte und dass die Aufseher

in Auschwitz nicht über Nacht durch böse Magie plötzlich verzaubert

wurden, sondern ganz normale Menschen waren, die aus Gier und Neid

und angeheizt durch das Streichholz populistischer Parolen ihre moralische

Grenzen zunehmend fallen ließen. Wir leben heute in einer anderen

Welt, und es sind nicht die gleichen Menschen. Aber es ist das gleiche

Böse. Doch das Böse ist kein Wesen, ist nicht Auschwitz, sind nicht

die miesen Ismen. Das Böse ist vermutlich etwas, das nur wir Menschen

im Menschen erkennen und aufhalten können. Denn das Böse ist keine

höhere Macht, sondern sehr menschlich.

Julia Kaldori

„Es gibt die

Ungeheuer,

aber sie sind zu

wenige, als dass

sie wirklich gefährlich

werden

könnten. Wer

gefährlich ist,

das sind die

normalen

Menschen“

Primo Levi

© Markus Schreiber / AP / picturedesk.com

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