21.01.2021 Aufrufe

procontra-Thema-Recht

Die Experten der Kanzlei Michaelis bringen auf den Punkt, was für Beratung und Vertrieb 2021 wichtig ist.

Die Experten der Kanzlei Michaelis bringen auf den Punkt, was für Beratung und Vertrieb 2021 wichtig ist.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Recht</strong><br />

1. Das Prinzip<br />

Das Problem der Überlagerung von<br />

Gesetzen durch ausgreifende <strong>Recht</strong>sprechung,<br />

die teilweise wiederum eine<br />

Eigenbeschleunigung besitzt und (wie<br />

oben gesehen) andere Zielvorgaben als<br />

der Gesetzgeber verfolgen kann, soll nun<br />

durch sogenannte Kontextualisierung in<br />

den Griff zu bekommen sein. 49 Lepsius<br />

versucht, aufzuzeigen, welche Gefahren<br />

durch eine unbedachte Verallgemeinerung<br />

gerichtlicher Entscheidungen drohen und<br />

wie ihnen entgegengewirkt werden kann.<br />

Ausgang ist die Erkenntnis, dass „wir“<br />

(in Kontinental-Europa) „keine Tradition<br />

im Umgang mit Präjudizien“ haben und<br />

Gerichtsurteile prinzipiell auslegen, „als<br />

ob es sich um subsumtionsfähige generellabstrakte<br />

<strong>Recht</strong>ssätze handele“. 50 Danach<br />

ist zunächst einmal zu fragen, von welchem<br />

Gericht eine Entscheidung stammt<br />

und in welchem Verfahren sie erlassen<br />

wurde. Nicht weniger wichtig erscheint<br />

die Eingrenzung auf den konkreten Sachverhalt,<br />

denn Gerichte beziehen ihre Komdes<br />

<strong>Recht</strong>s handhabbar zu ordnen, muss<br />

das <strong>Recht</strong> den Besonderheiten von Information<br />

an sich Rechnung tragen. Ausgehend<br />

von der Erkenntnis, dass Information<br />

die potenzielle Ursache zur Reduktion<br />

von Ungewissheit durch Kommunikation<br />

zwischen Menschen ist, kann es bei Informationspflichten<br />

nicht um die Schaffung<br />

von Gewissheit im Sinne der richtigen<br />

Entscheidung gehen. Informationspflichten<br />

können nur darauf angelegt sein, ein<br />

– möglichst hohes – subjektives Maß an<br />

Entscheidungssicherheit zu garantieren,<br />

das unter Berücksichtigung aller Umstände<br />

des Einzelfalls sozial-adäquat ist. 44<br />

Der Unbegrenztheit des Informationsbedürfnisses<br />

müssen notwendigerweise<br />

normative Grenzen gesetzt werden. Die<br />

Ausfüllung im konkreten Einzelfall erfolgt<br />

über den maßgeblichen Empfängerhorizont.<br />

Aufgrund der engen Verbindung zwischen<br />

Ungewissheit und Reduktion und bestehender<br />

Gemeinsamkeiten ergeben sich für<br />

dessen Bestimmung folgende Voraussetzungen:<br />

› Den Schuldner trifft, soweit es ihm<br />

zumutbar ist, die Verpflichtung, das<br />

Informationsinteresse des Gläubigers zu<br />

ergründen;<br />

› im Mittelpunkt steht die Ermittlung des<br />

Wissensstands des Gläubigers in Bezug<br />

auf die in Betracht kommende Entscheidungssituation<br />

unter Berücksichtigung<br />

dessen vorhandenen Fachwissens;<br />

› soweit keine zumutbaren Möglichkeiten<br />

zur Ermittlung des Informationsinteresses<br />

bestehen, ist das Informationsinteresse<br />

eines typisierten Regelempfängers<br />

der Informationspflicht zugrunde zu<br />

legen. 45<br />

Der konkrete Inhalt von Informationspflichten<br />

hängt damit maßgeblich vom<br />

Grad der gebotenen Entscheidungssicherheit<br />

und dem im jeweiligen Kontext<br />

maßgeblichen Empfängerhorizont ab.<br />

Diese informationstheoretischen Aspekte<br />

können nicht einfach ausgeblendet und<br />

so getan werden, als sei ausgerechnet der<br />

Informationsanspruch des Handelsvertreters<br />

unendlich. Man muss auch bei diesem<br />

methodenehrlich die Natur des Anspruchs<br />

bedenken und einen fairen Interessenausgleich<br />

finden. Nur im Falle eines Rückgriffs<br />

auf normative Kriterien kann also<br />

bestimmt werden, ob der Geschäftsherr<br />

alle „nötigen“ Angaben machte. Ist dies<br />

aber der Fall, dann kann nicht länger<br />

die Frage von Bedeutung sein, ob der<br />

Handelsvertreter eine deutlich erkennbare<br />

Willensäußerung abgab. Vielmehr würde<br />

in dem Falle sehr wohl – auch gegen das<br />

Credo des BGH 46 – das Unterlassen des<br />

Saldoanerkenntnisses trotz hinreichender<br />

Informationsvorgabe treuwidrig sein. Es<br />

würde dann durch den Handelsvertreter<br />

einzig und allein seine formelle Position<br />

ausgenutzt werden. Dieses Verhalten wäre<br />

nicht schutzwürdig. 47 Da der Informationsanspruch<br />

auf ein Vorverhalten<br />

angewiesen ist, sinnvolle Grenzen an<br />

dieses Verhalten wegen der Zumutbarkeit<br />

und dem normativen Empfängerhorizont<br />

erforderlich sind, wäre die erforderliche<br />

Erklärung auch eines Handelsvertreters<br />

als gegeben anzusehen, wenn der Geschäftsherr<br />

alle zumutbaren Informationen<br />

offenlegte.<br />

II. KONTEXTUALISMUS<br />

So weit die materiellen Ausführungen.<br />

Wie ordnet man aber dieses Ergebnis<br />

und die Scharaden der <strong>Recht</strong>sprechung<br />

sinnvoll in den Kontext der Komplexität<br />

ein? Offenkundig ist durch die Ausführungen<br />

auch geworden, dass – ausgehend<br />

von einer höchstrichterlichen Grundentscheidung<br />

– die OLG-<strong>Recht</strong>sprechung nur<br />

noch Mustererkennung betrieb.<br />

Dass ein sich ausbreitendes, selbstreferenzielles<br />

Netz von <strong>Recht</strong>sprechung intern<br />

zur Komplexitätszunahme beiträgt, wurde<br />

oben systembedingten Entwicklungen<br />

zugeschrieben.<br />

petenz unter anderem daraus, dass sie sich<br />

grundsätzlich auf einen singulären Fall beschränken.<br />

Da dies viel zu selten geschieht<br />

und Gerichtsentscheidungen von ihrem<br />

Entstehungszusammenhang isoliert werden,<br />

erblickt Lepsius die Lösung darin, sie<br />

umgekehrt in ihren Entstehungs-Kontext<br />

einzubetten. Verfehlter Abstraktion soll so<br />

durch eine bewusste Kontextualisierung<br />

entgegengewirkt werden.<br />

Dabei ist zweierlei von Interesse:<br />

› Einmal soll durch die Kontextualisierung<br />

einschlägiger Urteile verhindert<br />

werden, dass aus Kern- oder Leitsätzen<br />

überspannte Konsequenzen gezogen<br />

werden. Zwecks Verhütung „übergriffiger<br />

Interpretationen“ soll sich der<br />

<strong>Recht</strong>sanwender die begrenzte Bedeutung<br />

und Reichweite der herangezogenen<br />

Präjudizien vor seiner eigenen<br />

Entscheidung bewusst machen;<br />

› daneben soll Kontextualisierung ein<br />

Remedium darstellen, um eine <strong>Recht</strong>sordnung,<br />

die zunehmend auf Gerichtsentscheidungen<br />

basiert, vor der Versteinerung<br />

zu bewahren. 51<br />

2. Kritik<br />

Meine Kritik kann an dieser Stelle nur<br />

angedeutet werden. Zunächst ist beiden<br />

Verfassern großes Verdienst zuzusprechen,<br />

dass sie eine Entwicklung hinterfragen<br />

und relevante „System“-Fragen stellen,<br />

die über Urteilsbesprechung hinausgehen.<br />

Im Ergebnis wird aber lediglich 52 darauf<br />

abgestellt, dass die um sich greifende<br />

<strong>Recht</strong>fortbildung durch <strong>Recht</strong>sprechung<br />

dem „case law“ nahekommt und nun<br />

auch wir nicht länger eine Aneinanderreihung<br />

von Urteilen betreiben, sondern –<br />

wie im angelsächsischen <strong>Recht</strong> der Kern –<br />

eine Art distinguishing, 52 also Selektion<br />

der Maßgeblichkeit des Urteils in der<br />

jeweiligen Verwendung brauchen.<br />

Dieser Ansatz greift zu kurz, um die<br />

mit der Komplexität einhergehenden<br />

Probleme an der Wurzel zu packen.<br />

Denn deren Ursachen beschränken sich<br />

nicht auf die zunehmende Rolle, die die<br />

<strong>Recht</strong>sprechung sich als Funktionsträger<br />

gegenüber dem Gesetzgeber zuschreibt<br />

bzw. ihr zugeschrieben werden. 53<br />

Der Fokus muss erweitert werden. Wie<br />

gehen die Beteiligten mit Information<br />

um, was heißt heute „System“? Oberund<br />

untergerichtliche <strong>Recht</strong>sprechung,<br />

Grundsatzentscheidungen oder Einzelfallentscheidungen,<br />

Expertenmeinungen oder<br />

Betroffenenbeiträge in Social Media sind<br />

alle von gleicher Bedeutung? Bedeu-<br />

Sonderausgabe<br />

19

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!