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procontra-Thema-Recht

Die Experten der Kanzlei Michaelis bringen auf den Punkt, was für Beratung und Vertrieb 2021 wichtig ist.

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<strong>Recht</strong><br />

Der Umgang mit Komplexität –<br />

Information Overload und Systemabsturz<br />

– TEXT: RA OLIVER TIMMERMANN –<br />

„Ungewißheiten jenseits der Schwelle<br />

praktischer Vernunft haben ihre Ursache<br />

in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens;<br />

sie sind unentrinnbar<br />

und insofern als sozialadäquate Lasten<br />

von allen Bürgern zu tragen.“ 1<br />

Inmitten des Einzelnen muss man auch<br />

(manchmal) versuchen, einen Blick auf<br />

das „Ganze“ zu werfen. 2 Hier kann ein<br />

nüchterner Blick aktuell doch immer<br />

wieder erschrecken: 3 Iustitia hatte nie vor,<br />

die Gerechtigkeit 4 zu predigen. Sie ist eine<br />

transzendente Emanation eines regulativen<br />

Ideals geschaffen durch ein pragmatisches<br />

Bauernvolk. In römischer Lesart<br />

war Überflüssiges nicht nur überflüssig,<br />

sondern schlicht falsch. 5 Heute sind wir<br />

da einen ganzen Schritt weiter.<br />

Das Überflüssige – aller törichten Rufe<br />

nach „Transparenz“ 6 und „Klarheit durch<br />

Aufklärung“ 7 zum Trotz – ist längst zum<br />

bestimmenden Leitprinzip geworden.<br />

Das hat seinen Grund auch in dem schier<br />

unbegrenzten Zugriff auf Information. Es<br />

wird heute bereits bei relativ einfachen<br />

Fallbearbeitungen zunehmend unklarer,<br />

ob in der Auseinandersetzung die Komplexität<br />

des Problems oder das Problem<br />

der Komplexität Berücksichtigung finden<br />

soll. 8 Traditionelles juristisches Denken<br />

war Reduktion von Komplexität. 9 Das<br />

juristische Denken von heute ist allerdings<br />

die Explosion von Information und die<br />

Verunsicherung in dem (systematischen?)<br />

Umgang mit derselben. 10<br />

Die Verfügbarkeit einer enormen Menge<br />

an Informationen und die Ergänzung des<br />

Datenbestandes in Echtzeit um weitere,<br />

aktueller und immer aktuellere Entwicklungen<br />

stellen neue Anforderungen an das<br />

juristische Denken. 11 Informationsflut und<br />

Aktualisierungsgeschwindigkeit lassen die<br />

<strong>Recht</strong>sordnung unsicher und vorläufig<br />

erscheinen. Je größer die Informationsmenge,<br />

desto größer ist auch die Gefahr<br />

widersprüchlicher Informationen. Und<br />

Unsicherheit macht Menschen nicht nur<br />

produktiver, sondern – im Sinne einer sich<br />

selbst beschleunigenden <strong>Recht</strong>sunsicherheit<br />

– auch risiko- und fehlergeneigter. 12<br />

Der unbeschränkten Verfügbarkeit von<br />

Information kann – schon wegen berechtigter<br />

Gegeninteressen Dritter – in<br />

der Praxis niemals Rechnung getragen<br />

werden. Eine Reduktion von Ungewissheit<br />

in dem Sinne, dass eine Entscheidungssituation<br />

derart aufgelöst wird, dass eine richtige<br />

Entscheidung getroffen werden kann,<br />

ist mithin gar nicht möglich. 13 Dies hat<br />

Iustitia stets gewusst und deshalb schon<br />

früh zur Systembildung gegriffen, eben<br />

um die Komplexität von Entscheidungssituationen<br />

handhabbar zu machen. 14<br />

Systembildung steht deshalb bereits am<br />

Anfang der mittelalterlichen Auseinandersetzung<br />

mit den wiederentdeckten<br />

Digesten und ebenfalls bei der zeitgleichen<br />

Um- und Neuformung des kanonischen<br />

<strong>Recht</strong>s.<br />

Die systematische <strong>Recht</strong>swissenschaft<br />

ist eine Schöpfung der mittelalterlichen<br />

Scholastik. Mit dem Zusammenhang von<br />

autoritär vorgegebenem Stoff und einer<br />

Methode, durch logisches Schließen und<br />

dialektische Deduktion Widersprüche<br />

zwischen divergierenden Autoritäten aufzulösen,<br />

ist man lange Zeit gut gefahren. 15<br />

Durch selbstreferenzielles Denken 16 , eine<br />

immer größere Ausdifferenzierung – mit<br />

der zuvor externalisierte Themen 17 dem<br />

rechtlichen Bereich zugeschlagen, ihrem<br />

System (künstlich) immanent gemacht<br />

werden sollen 18 – und Verwischung der<br />

Grenzen der <strong>Recht</strong>sfortbildung 19 wurde<br />

das funktionierende System aus internen<br />

wie externen Gründen an seine Grenzen<br />

gebracht. Das <strong>Recht</strong> ist reflexiv geworden.<br />

Es wird gesetzt und gilt kraft Entscheidung<br />

im Einzelfall. Insofern ist <strong>Recht</strong><br />

variabel. Gesetztes <strong>Recht</strong> wird aber – bis<br />

zu einer jederzeit möglichen Änderung –<br />

normativ durchgehalten und ist damit<br />

zugleich invariabel. Die Folge ist eine immense<br />

Steigerung der Komplexität. Weite<br />

Bereiche des <strong>Recht</strong>s befinden sich somit<br />

in kontinuierlicher Revision. Die Reform<br />

des <strong>Recht</strong>s beschleunigt sich selbst, weil<br />

immer mehr Änderungen immer mehr<br />

Anpassungen erfordern. Mit der zeitlichen<br />

wächst zugleich die sachliche Komplexität<br />

des <strong>Recht</strong>s. Immer mehr Themen werden<br />

für justiziabel befunden. Das <strong>Recht</strong>, so<br />

formuliert Luhmann, gleitet so auch langsam<br />

ins Triviale. 20<br />

Da sich der Verfasser nicht dem Vorwurf<br />

aussetzen möchte, unnötig die „Systemfrage“<br />

gestellt zu haben bzw. in „kulturkritisches<br />

Lamento“ verfallen zu sein, 21<br />

soll hier und jetzt der praktische Beweis<br />

angetreten werden. In einem ersten Teil<br />

wird anhand einer relativ leichten Frage<br />

aus dem Vertriebsrecht die Frage nach der<br />

Zulänglichkeit der Komplexitätsbewältigung<br />

durch die selbst gesteckten Ziele<br />

der <strong>Recht</strong>sprechung gestellt (vgl. unter I)<br />

und in einem Teil II soll daraufhin ein<br />

interessanter Vorschlag aus der Wissenschaft<br />

vorgestellt werden, wie mit solchen<br />

erkennbaren Fehlentwicklungen umgesprungen<br />

werden kann. Eine Zusammenfassung<br />

wird als Teil III geboten.<br />

I. SALDOANERKENNTNIS DURCH<br />

DEN HANDELSVERTRETER<br />

1. Ausgangssituation<br />

Nach Beendigung eines Vertriebsvertrages<br />

streiten Unternehmer und Handelsvertreter<br />

nicht selten um ausstehende Forderungen.<br />

Macht der ehemalige Prinzipal<br />

Provisionsrückforderungen (aus inzwischen<br />

eingetretenen Storni) geltend, legt<br />

die <strong>Recht</strong>sprechung bekanntlich die Latte<br />

16<br />

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