blu März / April 2021
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MUSIK<br />
FOTO: ALEX WAESPI<br />
NACHGEFRAGT<br />
LONDON GRAMMAR:<br />
„Ich lege nicht allein den künstlerischen Kurs fest“<br />
Die Sängerin Hannah Reid ist<br />
erfreulich unprätentiös. Für das<br />
Video-Interview hat sie sich<br />
nicht großartig gestylt. Sie sitzt<br />
ganz lässig in Jeans und Sweatshirt bei<br />
sich zu Hause in London und redet völlig<br />
unaufgeregt über das neue Album ihrer<br />
Band London Grammar, das „Californian<br />
Soil“ heißt.<br />
Alle Songs seien bereits vor der Pandemie<br />
entstanden, erklärt sie. Somit greifen sie<br />
keine Themen wie Isolation in Zeiten von<br />
Corona auf, sondern rücken Feminismus<br />
in den Mittelpunkt. Das kommt nicht von<br />
ungefähr – Hannah Reid will als Frau im<br />
Musikgeschäft endlich ernst genommen<br />
werden. Deswegen hat sie sich zur<br />
Bandleaderin erklärt. Wie haben der Gitarrist<br />
Dan Rothmann und der Keyboarder Dominic<br />
„Dot“ Major darauf reagiert? „Sie verstanden<br />
sofort, worum es mir geht“, sagt die Britin.<br />
„Ich möchte mehr Respekt von außen<br />
bekommen.“ Das habe an den internen<br />
Strukturen allerdings nichts geändert: „Ich<br />
lege nicht allein den künstlerischen Kurs<br />
fest. Als Gruppe setzen wir nach wie vor auf<br />
Demokratie.“<br />
Das zeigt sich zum Beispiel an dem Stück<br />
„Talking“, das ursprünglich für die letzte<br />
Platte „Truth Is a Beautiful Thing“ vorgesehen<br />
war. Es machte damals nicht das<br />
Rennen, weil es zu wenig Single-Potenzial<br />
hatte. Damit konnte sich Hannah Reid aber<br />
nicht abfinden. Sie kramte die Demoversion<br />
wieder hervor und entschied einvernehmlich<br />
mit ihren beiden Mitstreitern, diese Nummer<br />
zu vollenden. „Den Klavierpart hat Dot<br />
tatsächlich binnen weniger Sekunden<br />
komponiert“, schwärmt<br />
Hannah Reid. „Er ist wirklich<br />
ein unglaublicher Pianist.“<br />
Das Ergebnis kann sich<br />
durchaus hören lassen:<br />
„Talking“ verzaubert als<br />
hinreißende Ballade. „Als<br />
ich den Text schrieb“, führt<br />
Hannah Reid aus, „war ich<br />
irgendwie paranoid. Ich<br />
brauchte nach zahlreichen<br />
Auftritten jemanden, der mich erdete.“<br />
So entstand ein Liebeslied, in dem die<br />
31-Jährige ihre Bedürfnisse auf den Punkt<br />
bringt. Bei ihr kommt Feminismus eben eher<br />
auf Samtpfoten daher. Mal offenbart sie<br />
ihre Sehnsüchte, mal sagt sie emotionalem<br />
Missbrauch in einer Beziehung den Kampf<br />
an, der Titelsong „Californian Soil“ wiederum<br />
handelt davon, die Kontrolle über das eigene<br />
Leben zu gewinnen. Wenn sich Hannah<br />
Reids glasklarer Gesang bei diesem Lied<br />
über sphärischen Trip-Hop legt, klingt das<br />
traumhaft schön.<br />
So pendeln London Grammar immer wieder<br />
zwischen handgemachter Musik und elektronischen<br />
Passagen. Bei „Missing“ vereinigen<br />
sich pluckernde Beats mit Streichern.<br />
Inhaltlich tanzt diese Nummer jedoch ein<br />
bisschen aus der Reihe. Sie erzählt davon,<br />
wie sich einige Musiker*innen im Sumpf aus<br />
Drogen und Alkohol verlieren. „Als ich mir<br />
Dokumentationen über Amy Winehouse,<br />
Whitney Houston oder Avicii<br />
ansah, habe ich geweint“,<br />
offenbart Hannah Reid. „Ihre<br />
Schicksale sind absolute<br />
Tragödien.“ Sie selbst<br />
scheint zum Glück nicht<br />
Gefahr zu laufen, aus der<br />
Spur zu geraten: „Während<br />
einer Tournee würde ich<br />
mich niemals betrinken.<br />
Ich hätte Angst davor, dass<br />
ich verkatert gar nicht meine volle Leistung<br />
abrufen könnte.“<br />
Apropos touren: Vermisst Hannah Reid<br />
im Moment das Unterwegssein? Jein –<br />
einerseits hat sie sich daheim ziemlich gut<br />
eingerichtet, andererseits fehlen ihr die Fans:<br />
„Ich sehne mich danach, mich emotional<br />
mit Menschen zu verbinden, denen unsere<br />
Musik wichtig ist.“ Dabei leidet sie vor<br />
einem Konzert stets unter furchtbarem<br />
Lampenfieber: „Ich habe zumindest die<br />
leise Hoffnung, dass es mir vor zukünftigen<br />
Gigs etwas besser gehen wird. Einfach weil<br />
ich mit unserem neuen Album so glücklich<br />
bin, dass das mein Selbstvertrauen stärkt.“<br />
*Dagmar Leischow