mensch Dann kam die Wende Gemeinsam mit Bernd Riedel und Ralph Schiller nutzte Matthias Walter (v.l.n.r.) die Gunst der Stunde und bot nur wenige Monate nach dem Mauerfall, die ersten Reisen um den Globus an. Der Andrang auf die Reiseland-Büros war riesig, denn die Menschen im Osten genossen ihre neue Freiheit. 72 3 | <strong>2021</strong>
DIE DREI GRÜNDER STECKTEN IHR GELD und ihre ganze Energie in diese Unternehmung. „Wir waren am Anfang sehr hemdsärmelig“, sagt Walter lachend und ganz eingetaucht in seine Erinnerungen. Auf der Suche nach neuen Geschäftslokalen reisten sie durch die DDR. Sie übernachteten in den Wohnungen ihrer neuen Partner und bekamen die Kinderzimmer zur Verfügung gestellt. Sie kauften VW-Busse, um Geld und Buchungsbestätigungen von A nach B zu bringen, und sie schaffmensch » Wir wussten sofort, dass sich uns eine einmalige Chance eröffnete. Und so entwickelten wir an einem einzigen Wochenende das Grundkonzept von ‚Reiseland‘. « LESEZEIT: 11 MINUTEN Januar 1990 in der DDR: Die erste Eu phorie der Grenzöffnung am 9. November 1989 hat sich gelegt. Doch nicht ganz. Zu vieles ist zu neu und unfassbar. Träume sind von nun an nicht mehr in den eigenen Gedanken gefangen, nun darf man sie laut denken. Plötzlich soll es möglich sein zu reisen? Nicht ausschließlich nach Polen oder Ungarn – nein, in den Westen! Aufbruchstimmung. Neugier. Und eine Abenteuerlust keimt in den Menschen aus der Noch-DDR auf. Auch wenn noch niemand so recht weiß, wie sich jetzt alles ent wickeln wird – eines ist sicher: Ein Zurück kann es nicht mehr geben. Es geht vorwärts. JANUAR 1990 IN GÖTTINGEN. Matthias Walter ist 27 Jahre alt und hat gerade seine feste Anstellung bei Neckermann-Reisen gekündigt. Er hat andere Träume und Pläne für sein Leben, er will Unternehmer werden. Wie genau dies aussehen soll, das weiß er nicht. „Eines aber wusste ich damals bereits ganz genau“, erzählt Walter heute – 30 Jahre später, „Unternehmertum bedeutete für mich gestalten zu können.“ Noch im selben Monat trifft er auf seinen befreundeten Reiseunternehmer Bernd Riedel, der ihm von Menschen aus der DDR berichtet, mit denen er sich unterhalten habe, und von deren Sehnsucht zu reisen. „Wir wussten sofort, dass sich uns eine einmalige Chance eröffnete“, sagt Walter. „Und so entwickelten wir an einem einzigen Wochenende das Grundkonzept von ‚Reiseland‘.“ Was nach dem konspirativen Wochenende Anfang 1990 in dem kleinen Northeimer Büro von Bernd Riedel geschah, ist eine gelebte Wiedervereinigungsgeschichte. Die Vision der beiden war schnell klar: Sie wollten Reisebüros in der DDR eröffnen, die auch noch 20 oder 30 Jahre später erfolgreich auf dem bis dato neuen Markt sind. Dafür brauchten sie allerdings Partner vor Ort, die in eigenständiger Verantwortung, aber unter der Schirmherrschaft von Reiseland, agierten. Selbst durften die Gründer damals im Osten kein Geschäft eröffnen, denn noch waren es zwei eigenständige Staaten. BEREITS ZWEI MONATE SPÄTER ERÖFFNETE das erste Reiseland-Reisebüro in Sondershausen. „Der ganze Platz vor dem Geschäft war voll mit Menschen“, erzählt Walter noch immer voller Begeisterung. „Wir verteilten an einem Tag 7.000 Rosen und unzählige Werbegeschenke von TUI. Die Leute waren so glücklich – ich kriege heute noch eine Gänsehaut.“ Die Menschen waren so hungrig danach, die Welt zu entdecken. Und Reise land machte es möglich. Die Geschäftspartner Matthias Walter, Bernd Riedel und schließlich noch Ralph Schiller – alle drei kamen aus der Branche – boten ab dem ersten Tag Reisen zu allen Plätzen rund um den Globus an, ob zu Musicals auf dem Broadway, dem Amsterdamer Keukenhof oder nach Paris, der Stadt der Liebe. „Wir mussten zu Beginn für die Reisenden in den Bussen in Northeim noch einen westdeutschen Übergangspass ausstellen lassen, da sie als noch offizielle DDR-Bürger gar nicht hätten ins westliche Ausland fahren dürfen – es war eine unglaublich aufregende Zeit.“ 3 |<strong>2021</strong> 73