faktor Herbst 2021
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DIE DREI GRÜNDER STECKTEN IHR GELD und ihre<br />
ganze Energie in diese Unternehmung. „Wir waren am<br />
Anfang sehr hemdsärmelig“, sagt Walter lachend und<br />
ganz eingetaucht in seine Erinnerungen. Auf der Suche<br />
nach neuen Geschäftslokalen reisten sie durch die DDR.<br />
Sie übernachteten in den Wohnungen ihrer neuen Partner<br />
und bekamen die Kinderzimmer zur Verfügung gestellt.<br />
Sie kauften VW-Busse, um Geld und Buchungsbestätigungen<br />
von A nach B zu bringen, und sie schaffmensch<br />
» Wir wussten sofort, dass sich uns eine<br />
einmalige Chance eröffnete. Und so<br />
entwickelten wir an einem einzigen Wochenende<br />
das Grundkonzept von ‚Reiseland‘. «<br />
LESEZEIT: 11 MINUTEN<br />
Januar 1990 in der DDR: Die erste Eu phorie der<br />
Grenzöffnung am 9. November 1989 hat sich gelegt.<br />
Doch nicht ganz. Zu vieles ist zu neu und<br />
unfassbar. Träume sind von nun an nicht mehr<br />
in den eigenen Gedanken gefangen, nun darf<br />
man sie laut denken. Plötzlich soll es möglich<br />
sein zu reisen? Nicht ausschließlich nach Polen<br />
oder Ungarn – nein, in den Westen! Aufbruchstimmung.<br />
Neugier. Und eine Abenteuerlust keimt in den Menschen<br />
aus der Noch-DDR auf. Auch wenn noch niemand so<br />
recht weiß, wie sich jetzt alles ent wickeln wird – eines ist<br />
sicher: Ein Zurück kann es nicht mehr geben. Es geht<br />
vorwärts.<br />
JANUAR 1990 IN GÖTTINGEN. Matthias Walter ist 27<br />
Jahre alt und hat gerade seine feste Anstellung bei<br />
Neckermann-Reisen gekündigt. Er hat andere Träume<br />
und Pläne für sein Leben, er will Unternehmer werden.<br />
Wie genau dies aussehen soll, das weiß er nicht. „Eines<br />
aber wusste ich damals bereits ganz genau“, erzählt<br />
Walter heute – 30 Jahre später, „Unternehmertum bedeutete<br />
für mich gestalten zu können.“ Noch im selben<br />
Monat trifft er auf seinen befreundeten Reiseunternehmer<br />
Bernd Riedel, der ihm von Menschen aus der DDR<br />
berichtet, mit denen er sich unterhalten habe, und von<br />
deren Sehnsucht zu reisen. „Wir wussten sofort, dass<br />
sich uns eine einmalige Chance eröffnete“, sagt Walter.<br />
„Und so entwickelten wir an einem einzigen Wochenende<br />
das Grundkonzept von ‚Reiseland‘.“<br />
Was nach dem konspirativen Wochenende Anfang<br />
1990 in dem kleinen Northeimer Büro von Bernd Riedel<br />
geschah, ist eine gelebte Wiedervereinigungsgeschichte.<br />
Die Vision der beiden war schnell klar: Sie wollten Reisebüros<br />
in der DDR eröffnen, die auch noch 20 oder 30<br />
Jahre später erfolgreich auf dem bis dato neuen Markt<br />
sind. Dafür brauchten sie allerdings Partner vor Ort, die<br />
in eigenständiger Verantwortung, aber unter der Schirmherrschaft<br />
von Reiseland, agierten. Selbst durften die<br />
Gründer damals im Osten kein Geschäft eröffnen, denn<br />
noch waren es zwei eigenständige Staaten.<br />
BEREITS ZWEI MONATE SPÄTER ERÖFFNETE das erste<br />
Reiseland-Reisebüro in Sondershausen. „Der ganze<br />
Platz vor dem Geschäft war voll mit Menschen“, erzählt<br />
Walter noch immer voller Begeisterung. „Wir verteilten<br />
an einem Tag 7.000 Rosen und unzählige Werbegeschenke<br />
von TUI. Die Leute waren so glücklich – ich<br />
kriege heute noch eine Gänsehaut.“ Die Menschen<br />
waren so hungrig danach, die Welt zu entdecken. Und<br />
Reise land machte es möglich. Die Geschäftspartner<br />
Matthias Walter, Bernd Riedel und schließlich noch<br />
Ralph Schiller – alle drei kamen aus der Branche – boten<br />
ab dem ersten Tag Reisen zu allen Plätzen rund um den<br />
Globus an, ob zu Musicals auf dem Broadway, dem<br />
Amsterdamer Keukenhof oder nach Paris, der Stadt der<br />
Liebe. „Wir mussten zu Beginn für die Reisenden in den<br />
Bussen in Northeim noch einen westdeutschen Übergangspass<br />
ausstellen lassen, da sie als noch offizielle<br />
DDR-Bürger gar nicht hätten ins westliche Ausland fahren<br />
dürfen – es war eine unglaublich aufregende Zeit.“<br />
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