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faktor Herbst 2021

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leben<br />

Und ohne Wunsch nach einem Wandel wäre der Stadtfriedhof<br />

auch nicht entstanden: abgerückt von den Kirchen<br />

zu bestatten, in einer parkähnlichen Umgebung,<br />

mit Raum für bürger liches Selbstbewusstsein. Angeregt<br />

hatte ihn seinerzeit Bürgermeister Georg Merkel. „Bei<br />

meinem Eintreffen in Göttingen fand ich nun alle Kirchhöfe<br />

in einem solchen Zustande der Überfüllung (Gebeine<br />

wurden fast bei allen Beerdigungen zutage gefördert),<br />

der Vernachlässigung, Unordnung und Verwilderung,<br />

dass der Pietät wie der Sanität in unerhörter Weise Hohn<br />

gesprochen wurden“ – zitiert Jürgen Döring die Erinnerungen<br />

des Bürgermeisters in seinem Buch ,Geschichte<br />

der alten Göttinger Friedhöfe‘. Nicht nur in Göttingen<br />

entstanden damals solche Parkfriedhöfe. Sie faszinieren<br />

bis heute mit ihren majestätischen alten Bäumen, den<br />

kunstvoll gearbeiteten Grabsteinen und vor allem den<br />

Lebensgeschichten der Beerdigten.<br />

DER HIESIGE STADTFRIEDHOF hat dennoch eine ganz<br />

eigene Gestalt. Weniger ausladende Mausoleen oder<br />

prachtvolle Grabanlagen von Unternehmern prägen das<br />

Bild dieser parkähnlichen Anlage, die ganze 360.000<br />

Quadratmeter umfasst, sondern Ruhestätten von Wissenschaftlern,<br />

darunter neun Nobelpreisträger, Göttinger<br />

Händler- und Handwerkerfamilien und Ehrenbürger.<br />

Wer sich vertieft, für den können Gräber ein lebendiges<br />

Geschichtsbuch sein. Soldaten- und Ehrenmäler mahnen<br />

zudem an die Schrecken des Krieges, wie etwa eine vom<br />

Moos grünlich schimmernde Stele, auf der ein Stahlhelm<br />

ruht – das Gesicht des Soldaten ist nicht mehr erkennbar.<br />

Wer wiederkommt, sieht immer anderes. Weil er ein<br />

anderer ist. Und auch der Stadtfriedhof hat sich verändert,<br />

mal mehr, mal weniger. Mir war vor vier Jahren die<br />

Liebesbotschaft eines Jungen aufgefallen, der gleich<br />

sechs Mädchennamen mittig auf die weiße Holzwand<br />

des Pavillons geschrieben und alle mit einem Herzen versehen<br />

hatte. Längst sind seine Zeilen überschrieben und<br />

übertüncht. Vergänglichkeit schwebt über allem auf dem<br />

Stadtfriedhof. Vielleicht macht es die Zeit auf seinen Wegen<br />

deshalb zu etwas Kostbarem? Weil wir wissen, dass<br />

all das Schöne, an dem unser Blick hängen bleibt, vergeht?<br />

Ähnlich wie die Regentropfen, die versiegen, mich<br />

aufbrechen lassen aus dem Friedhof. Bis ich hoffentlich<br />

eines Tages wiederkomme. ƒ<br />

3 |<strong>2021</strong> 95

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