faktor Herbst 2021
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
wissen<br />
953 – 1289: Wie alles begann ...<br />
Obwohl ,gutingi‘ bereits 953 erstmals urkundlich erwähnt wird, beginnt<br />
die Wirtschaftsgeschichte der Stadt Göttingen erst zwischen 1152 und<br />
1175. In diesem Zeitraum lässt der Welfenherzog Heinrich der Löwe<br />
am westlichen Rand des alten Dorfes eine separate Marktsiedlung<br />
errichten, um durch Steuern vom sich entwickelnden Handel zu<br />
profitieren. Die sich hier kreuzenden mittelalterlichen Handelswege<br />
ermöglichen im 13. Jahrhundert einen schnellen Aufstieg der städtischen<br />
Siedlung. Mit den steigenden Steuereinnahmen aus dem über Göttingen<br />
abgewickelten überregionalen Handel werden nicht nur der herzogliche<br />
Haushalt, sondern auch der Ausbau der Stadt finanziert.<br />
Das älteste bekannte Stadtsiegel aus dem Jahr 1278 bekräftigt die<br />
Bedeutung der Stadt und ihren zunehmenden politischen Einfluss<br />
gleichermaßen. Nachdem im Jahr 1289 das Bürgerrecht erstmals an<br />
Juden vergeben wurde, welchen im Gegensatz zu den christlichen<br />
Kaufleuten Kredit- und Pfandgeschäfte erlaubt waren, bieten sich<br />
neue unternehmerische Möglichkeiten.<br />
1319 – 1387: Die Stadt in voller Blüte<br />
Im 14. Jahrhundert erlebt die Stadt ihre Blütezeit. Die Stadtmauer wird<br />
erneuert, ein Rathaus am Marktplatz errichtet und die Jakobikirche<br />
erweitert. Im Jahr 1351 wird Göttingen sogar Mitglied der Hanse, was<br />
einerseits der gestiegenen wirtschaftlichen Bedeutung Rechnung trägt<br />
und andererseits neue Märkte öffnet. Mit steuerfinanzierter Waffengewalt<br />
setzt sich die Stadt 1387 schließlich gegen den Herzog durch<br />
und erlangt politische und wirtschaftliche Gestaltungsfreiheit.<br />
1463 – 1582: Schleichender Bedeutungsverlust<br />
In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts setzt ein lang anhaltender<br />
Bedeutungsverlust des Handels- und Wirtschaftsstandorts Göttingen<br />
ein. Verschiedene Epidemien reduzieren die Bevölkerungszahl rapide,<br />
die alten Handelsrouten verschieben sich zunehmend, und günstige<br />
niederländische Stoffe überschwemmen den Textilmarkt. Um dieser<br />
Entwicklung etwas entgegenzusetzen, beginnt der Göttinger Stadtrat<br />
1475 mit der Anwerbung westfälischer und flandrischer Fachkräfte.<br />
Doch trotz kurzfristiger Erfolge lässt sich der Abschwung nicht mehr<br />
aufhalten. Nachdem die Stadt 1572 die Hanse verließ und 1582<br />
ihre Leinedörfer an den Herzog verlor, besiegelt schließlich der<br />
Dreißigjährige Krieg Göttingens Status als ,Ackerbürgerstadt‘<br />
ohne überregionale Bedeutung.<br />
1690 – 1722: Merkantilismus bringt Wiederaufschwung<br />
Im Jahr 1690 wird Göttingen schließlich wieder unter herzogliche<br />
Gewalt gestellt. Aus dieser Schmach für den Stadtrat geht jedoch<br />
zugleich eine Chance für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg hervor,<br />
denn der hannoversche Herzog richtet sein Territorium ganz nach der<br />
zeitgenössischen Idee des Merkantilismus aus: Mit großzügigen Staatsaufträgen<br />
wird die lokale Textilindustrie unterstützt, ein regionales<br />
Biermonopol fördert den städtischen Haushalt und ein reduziertes<br />
Bürgergeld zieht neue Handwerker, Kaufleute und damit neues Kapital<br />
in die Stadt. Nicht immer lässt sich die herzogliche beziehungsweise<br />
später kurfürstliche Wirtschaftspolitik mit den Interessen der handwerklich<br />
und kaufmännisch geprägten Bürgerschaft übereinbringen. Dies<br />
wird bei der Ansiedlung der Tuchmanufaktur des Johann Heinrich<br />
Grätzel zwischen 1722 und 1727 deutlich, welche der hannoversche<br />
Kurfürst gegen den erbitterten Widerstand des Stadtrats und der<br />
Tuchmachergilde durchsetzt.<br />
3 |<strong>2021</strong> 39