faktor Winter 2022
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leben<br />
Zeitgemäß Geschäftsführer André Neiß weiß um den Wert der historischen Wurzeln – „Wir dürfen aber nicht zu museal werden.“<br />
IM VERWALTUNGSGEBÄUDE, EINIGE SCHRITTE vom<br />
Schloss entfernt, arbeitet man währenddessen am Porzellan<br />
für die gedeckte Tafel der Gegenwart. Hier hat<br />
Geschäftsführer André Neiß sein Büro. Die Jubiläumsausstellung<br />
habe ihn beeindruckt, erzählt er. „Vor<br />
allem zu sehen, wie viele Menschen es gibt, die Porzellan<br />
nach wie vor fasziniert.“ Eine pompöse Feier zu 275 Jahren<br />
habe es bewusst nicht gegeben. „Es ist nicht die rechte<br />
Zeit, sich selbst auf die Schulter zu klopfen“.<br />
Dem Klang seiner Stimme hört man die einstige Hamburger<br />
Heimat an. Der Diplom-Betriebswirt hat in einigen<br />
Branchen Erfahrungen gewonnen, war Wirtschaftsprüfer,<br />
Controller und Vorstandsvorsitzender. Der<br />
63-Jährige wirkt nüchtern-hanseatisch mit dunkelblauem<br />
Anzug und transparentem Brillengestell. Er<br />
kennt die dramatischen Änderungen der Branche: 1990<br />
hatte sie 16.000 Angestellte, 2015 waren knapp 3.900<br />
übrig. Die Zukunft ist angesichts ausländischer Konkurrenz<br />
unsicher. Erst recht bei den immens gestiegenen<br />
Energiepreisen. Erste Porzellan-Hersteller wollen ihre<br />
Produktion im kommenden Jahr einstellen.<br />
In diesen Chor des Niedergangs möchte Neiß nicht<br />
einstimmen. „Natürlich macht uns die Entwicklung<br />
Sorgen. Wir haben unsere Kosten für Energie in diesem<br />
Jahr verdoppelt.“ Bei Brenntemperaturen von bis zu<br />
1.400 Grad Celsius brauche der Ofen einiges an Gas.<br />
Dennoch erwartet der Geschäftsführer ein „recht zufriedenstellendes“<br />
Ergebnis. Während der Corona- Pandemie<br />
hätten offensichtlich viele die Freude des Gastgebens<br />
entdeckt und sich neues Porzellan gekauft – erst über<br />
Händler im Internet, später im Facheinzelhandel. Die<br />
Nachfrage sei gut.<br />
VERHALTENER OPTIMISMUS SCHWINGT bei seinen<br />
Schilderungen mit. Anfang 2021 übernahm er als Interimsgeschäftsführer<br />
die Unternehmensleitung in ernster<br />
Lage. Der Verlust lag bei fünf Millionen Euro, die Manufaktur<br />
war auf weniger als 80 Angestellte geschrumpft.<br />
Der Abbau sei an seine Grenze gekommen, so Neiß.<br />
„Die Richtung muss eine andere werden, wir brauchen<br />
mehr gesunden Umsatz.“ Dafür sei eine neue Art Direktion<br />
entstanden, Marketing und Vertrieb gestärkt worden.<br />
Diese sollen dafür werben, dass Fürstenberg für modernes<br />
Porzellan stehe. „Wir würden vieles nicht können,<br />
wenn wir diese historischen Wurzeln nicht hätten. Wir<br />
dürfen aber nicht zu museal werden.“ Neiß greift nach<br />
einer matt-weißen, zylindrischen Teekanne, die neben<br />
seinem Schreibtisch steht. Diese nutze er täglich. Sie gehört<br />
zum neuesten Service der Manufaktur, das im Jubi-<br />
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