faktor Winter 2022
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leben<br />
Immer Vollgas<br />
Luisa Grube hat es mit 21 Jahren unter die besten Ski-Rennläufer Deutschlands geschafft.<br />
Doch damit soll die Geschichte der sehbehinderten Göttingerin noch längst nicht auserzählt sein:<br />
nächstes großes Ziel sind die <strong>Winter</strong>-Paralympics 2026.<br />
TEXT RUPERT FABIG FOTOGRAFIE PRIVAT<br />
LESEZEIT: 4 MINUTEN<br />
Nehmen Sie sich doch mal die Zeit und absolvieren<br />
Sie die folgende Übung: ein Auge zumachen,<br />
mit dem anderen wie durch ein<br />
Fernrohr durch eine Papierrolle schauen. So<br />
weit, so gut. Nun legen Sie eine Milchglasscheibe ans<br />
vordere Ende ihres Fernrohrs und schauen mal, was Sie<br />
sehen – genau, nahezu nichts. Herzlichen Glückwunsch,<br />
nun sehen Sie in etwa so viel wie Luisa Grube. Mit dem<br />
feinen Unterschied, dass die 21-Jährige mit entspannten<br />
60 bis 100 Stundenkilometern Ski-Weltcup- Pisten hinabschießt.<br />
Immer am Anschlag, immer in Richtung Treppchen,<br />
immer mit vollem Durchblick.<br />
DIE GEBÜRTIGE GÖTTINGERIN, die in Nörten-Hardenberg<br />
aufgewachsen ist, verfügt über eine Sehkraft von<br />
noch rund zwei Prozent. Früher waren es mal fünf Prozent,<br />
doch der grüne Star, an dem sie seit Geburt erkrankt<br />
ist, lässt sich nicht rückgängig machen, sondern lediglich<br />
verzögern. Dabei ist Verzögerung doch so ziemlich das<br />
Letzte, das sich mit Grube in Verbindung bringen lässt.<br />
Etwas anderes als Vollgas kennt die Topathletin nicht.<br />
Klettern, Mountainbiken, und wenn’s mal entspannter<br />
zugehen muss, dann eben Wandern in den Alpen – Grube<br />
beschreibt sich als Adrenalinjunkie. Am erfolgreichsten<br />
holt sie sich den Kick auf der Skipiste: als Teammitglied<br />
der deutschen Paraalpinisten und Niedersachsens große<br />
Hoffnung bei den Paralympischen Spielen 2026 im italienischen<br />
Mailand und Cortina d’Ampezzo.<br />
DOCH WIE KOMMT DIE MITTELDEUTSCHE ins Hochgebirge?<br />
„Mit dem Skifahren hatte ich es eigentlich<br />
schon immer“, erzählt Grube. Bereits als kleines Kind<br />
ging es mit den Eltern in den Skiurlaub, denen sie dann<br />
einfach hinterherfuhr. „Das Problem dabei: Mama und<br />
Papa waren mir einfach zu langsam.“ Also musste Bruder<br />
Dennis als vorausfahrender Guide herhalten. Das<br />
sollte er auch Jahre später auf höherklassigem Niveau.<br />
Mit 16 zieht Luisa Grube aus Südniedersachsen nach<br />
Marburg, um ein Gymnasium für Sehbehinderte und<br />
Blinde zu besuchen. Eine Mitschülerin, damals bereits<br />
Paraskifahrerin, schlägt ihr vor, sie doch mal zu einem<br />
Nach wuchslehrgang zu begleiten. Ihr Talent: unübersehbar.<br />
ENDE 2018 NIMMT SIE an den ersten Rennen teil. In der<br />
Regel verfügen Spitzenathleten dabei über ihren eigenen<br />
Guide – bei Grube ist dies zunächst ihr Bruder. Dieser<br />
nimmt beim Skifahren für Sehbehinderte eine essenzielle<br />
Rolle ein. Bekleidet mit einer schwarzen Jacke und einem<br />
neonfarbenen Leibchen, als Kontrast zum Schnee<br />
und nahestehenden Bäumen, fährt er dem Athleten voraus.<br />
Bis zu zehn Metern gelingt es Grube noch, ihn<br />
wahrzunehmen, darüber hinaus wird es gefährlich. „Ich<br />
fühle mich am sichersten, wenn der Guide mir ungefähr<br />
drei Meter voraus ist“, sagt Grube. Verbunden sind die<br />
beiden Fahrer via Funk. Der Guide beschreibt die anstehenden<br />
Kombinationen und die Pistenbeschaffenheit,<br />
bei Wind und 60 Stundenkilometern nicht immer einfach<br />
zu verstehen. „Im Training tauschen wir aber ab<br />
und zu, um eine neue Perspektive zu bekommen. Das ist<br />
ein guter Übungs effekt“, erzählt sie, die ihren Bruder jedoch<br />
schon bald als Unterstützer ausmustern musste. „Er<br />
hat sein eigenes Leben, in dem er gern Fußball spielt und<br />
nicht immer Zeit hat“, sagt die Slalom- und Riesenslalomspezialistin<br />
und schiebt neckisch hinterher: „Zudem<br />
wären Streitereien unter Geschwistern wohl auch<br />
vorprogrammiert gewesen.“<br />
Nach dem Abitur 2020 zieht es Grube zum Studium<br />
der Erziehungswissenschaften ins österreichische Innsbruck,<br />
um nicht nur an Wochenenden oder während der<br />
Ferien aus Marburg in die Skigebiete anreisen zu können,<br />
sondern ihre Trainingsreviere vor der eigenen Haustür<br />
zu haben. Sölden beispielsweise ist lediglich eineinhalb<br />
Stunden entfernt.<br />
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