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leben Immer Vollgas Luisa Grube hat es mit 21 Jahren unter die besten Ski-Rennläufer Deutschlands geschafft. Doch damit soll die Geschichte der sehbehinderten Göttingerin noch längst nicht auserzählt sein: nächstes großes Ziel sind die <strong>Winter</strong>-Paralympics 2026. TEXT RUPERT FABIG FOTOGRAFIE PRIVAT LESEZEIT: 4 MINUTEN Nehmen Sie sich doch mal die Zeit und absolvieren Sie die folgende Übung: ein Auge zumachen, mit dem anderen wie durch ein Fernrohr durch eine Papierrolle schauen. So weit, so gut. Nun legen Sie eine Milchglasscheibe ans vordere Ende ihres Fernrohrs und schauen mal, was Sie sehen – genau, nahezu nichts. Herzlichen Glückwunsch, nun sehen Sie in etwa so viel wie Luisa Grube. Mit dem feinen Unterschied, dass die 21-Jährige mit entspannten 60 bis 100 Stundenkilometern Ski-Weltcup- Pisten hinabschießt. Immer am Anschlag, immer in Richtung Treppchen, immer mit vollem Durchblick. DIE GEBÜRTIGE GÖTTINGERIN, die in Nörten-Hardenberg aufgewachsen ist, verfügt über eine Sehkraft von noch rund zwei Prozent. Früher waren es mal fünf Prozent, doch der grüne Star, an dem sie seit Geburt erkrankt ist, lässt sich nicht rückgängig machen, sondern lediglich verzögern. Dabei ist Verzögerung doch so ziemlich das Letzte, das sich mit Grube in Verbindung bringen lässt. Etwas anderes als Vollgas kennt die Topathletin nicht. Klettern, Mountainbiken, und wenn’s mal entspannter zugehen muss, dann eben Wandern in den Alpen – Grube beschreibt sich als Adrenalinjunkie. Am erfolgreichsten holt sie sich den Kick auf der Skipiste: als Teammitglied der deutschen Paraalpinisten und Niedersachsens große Hoffnung bei den Paralympischen Spielen 2026 im italienischen Mailand und Cortina d’Ampezzo. DOCH WIE KOMMT DIE MITTELDEUTSCHE ins Hochgebirge? „Mit dem Skifahren hatte ich es eigentlich schon immer“, erzählt Grube. Bereits als kleines Kind ging es mit den Eltern in den Skiurlaub, denen sie dann einfach hinterherfuhr. „Das Problem dabei: Mama und Papa waren mir einfach zu langsam.“ Also musste Bruder Dennis als vorausfahrender Guide herhalten. Das sollte er auch Jahre später auf höherklassigem Niveau. Mit 16 zieht Luisa Grube aus Südniedersachsen nach Marburg, um ein Gymnasium für Sehbehinderte und Blinde zu besuchen. Eine Mitschülerin, damals bereits Paraskifahrerin, schlägt ihr vor, sie doch mal zu einem Nach wuchslehrgang zu begleiten. Ihr Talent: unübersehbar. ENDE 2018 NIMMT SIE an den ersten Rennen teil. In der Regel verfügen Spitzenathleten dabei über ihren eigenen Guide – bei Grube ist dies zunächst ihr Bruder. Dieser nimmt beim Skifahren für Sehbehinderte eine essenzielle Rolle ein. Bekleidet mit einer schwarzen Jacke und einem neonfarbenen Leibchen, als Kontrast zum Schnee und nahestehenden Bäumen, fährt er dem Athleten voraus. Bis zu zehn Metern gelingt es Grube noch, ihn wahrzunehmen, darüber hinaus wird es gefährlich. „Ich fühle mich am sichersten, wenn der Guide mir ungefähr drei Meter voraus ist“, sagt Grube. Verbunden sind die beiden Fahrer via Funk. Der Guide beschreibt die anstehenden Kombinationen und die Pistenbeschaffenheit, bei Wind und 60 Stundenkilometern nicht immer einfach zu verstehen. „Im Training tauschen wir aber ab und zu, um eine neue Perspektive zu bekommen. Das ist ein guter Übungs effekt“, erzählt sie, die ihren Bruder jedoch schon bald als Unterstützer ausmustern musste. „Er hat sein eigenes Leben, in dem er gern Fußball spielt und nicht immer Zeit hat“, sagt die Slalom- und Riesenslalomspezialistin und schiebt neckisch hinterher: „Zudem wären Streitereien unter Geschwistern wohl auch vorprogrammiert gewesen.“ Nach dem Abitur 2020 zieht es Grube zum Studium der Erziehungswissenschaften ins österreichische Innsbruck, um nicht nur an Wochenenden oder während der Ferien aus Marburg in die Skigebiete anreisen zu können, sondern ihre Trainingsreviere vor der eigenen Haustür zu haben. Sölden beispielsweise ist lediglich eineinhalb Stunden entfernt. 4 |<strong>2022</strong> 93