ELGA: Mehr Flop als top? - PrOgiParK
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Paul-WatzlaWick-EhrEnring dEr ÄrztEkammEr für WiEn 2011<br />
mit ihm über den Begriff Wirklichkeit diskutieren.<br />
Die Leugnung der Existenz eines Baumes<br />
kann ein akademisches Vergnügen, aber auch ein<br />
letaler Irrtum sein. Vielleicht sollte man den Begriff<br />
Wirklichkeit nur im Plural verwenden.<br />
Wenn ich in den bewundernswerten Biografien<br />
von Rüdiger Safranski lese, dass zu Schillers<br />
Zeiten in Weimar noch die Schweine in den Straßen<br />
der Stadt herumliefen, dann ist das nicht nur<br />
ein zwar unscheinbarer, aber einprägsamer, Hinweis<br />
– den man sich sicher merkt –, sondern ich<br />
kann daraus schließen, dass die Straßen noch<br />
nicht gepflastert waren, dass es noch keine Kanalisation<br />
gab, dass in den Häusern noch Ställe wa-<br />
ren und von den Bürgern zumindest teilweise<br />
noch Landwirtschaft betrieben wurde, und dass es<br />
im Olymp der deutschen Klassik ganz schön gestunken<br />
hat. Dieses einprägsame Bild entsteht<br />
nicht durch Beschreibung, sondern durch eine<br />
einfache Bemerkung.<br />
Beispiel skrupelloser Ambivalenz in der Architektur<br />
ist etwa die Rolle der antiken Säulen, die in den verschiedensten<br />
Situationen (Beziehungen), ob <strong>als</strong><br />
Symbole für Kultur oder Macht, für imperialen<br />
Prunk oder <strong>als</strong> Erinnerung an Quellen der Demokratie,<br />
<strong>als</strong> Zeichen für Revolutionen, <strong>als</strong> Versatzstücke<br />
für das Pathos faschistischer oder stalinistischer<br />
Symbole, oder schlicht <strong>als</strong> Präsentation handwerklicher<br />
Kunst, gebraucht oder missbraucht<br />
wurden. Ihre Omnipräsenz ist vielleicht auch daraus<br />
zu erklären, dass die Säule ein unverzichtbares<br />
konstruktives Element darstellt, das nur durch den<br />
Wandel an Form und Bedeutung erträglich blieb.<br />
Die Säule war immer, austriazistisch gesagt, gut<br />
herzunehmen. Hans Hollein hat diesen Sachverhalt<br />
in der „Strada Novissima“ an der Biennale von<br />
Venedig 1980 eindrucksvoll demonstriert.<br />
10 5|11<br />
Faktor Zeit<br />
In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich,<br />
auch noch auf den Faktor Zeit hinzuweisen. Die<br />
Moderne begann, abgesehen von der Entdeckung<br />
und Darstellung des perspektivischen Raums in<br />
der Renaissance, spätestens mit dem Historismus,<br />
mit der Industrialisierung, der zeitlichen Organisation<br />
der Arbeitswelt, es entstand – so vermute<br />
ich – zumindest praktisch ein linearer Zeitbegriff.<br />
Die Kunst- und Architekturforschung teilte die<br />
Vergangenheit in eine lineare Abfolge von Stilen,<br />
ihre Beschreibung, Katalogisierung, faktische Benennung,<br />
Unterscheidbarkeit, und verankerte sie<br />
in einer Chronologie der Geschichte.<br />
Der Paul-Watzlawick-Ehrenring der Ärztekammer für Wien wird zukünftig zweijährlich an herausragende, interdisziplinär<br />
forschende Wissenschafter verliehen: Friedrich Achleitner mit dem Laudator und Organisator der<br />
„Wiener Vorlesungen“, Hubert-Christian Ehalt (li.) und Ärztekammerpräsident Walter Dorner<br />
Es war sicher ein schöpferischer Irrtum der<br />
Historisten, dass man durch Stilwahl auch Geschichte<br />
rekonstruieren oder bewahren könne.<br />
In Wahrheit hat man in jedem qualitätsvollen<br />
Werk nur die Distanz zur Geschichte veranschaulicht<br />
und dokumentiert. So wurde das Feld<br />
der scheinbaren Nachahmung zum Spielfeld<br />
großartiger Raum- und Formerfindungen, wenn<br />
man etwa an Theophil Hansens Mittelachse im<br />
Wiener Parlament denkt, die zwei „Häuser“ –<br />
das Abgeordneten- und das Herrenhaus – trennt<br />
und verbindet in einem. Hansen hat den klassischen<br />
„Griechischen Stil“ nicht nur <strong>als</strong> Verweis<br />
auf die „Wiege der Demokratie“ benutzt,<br />
sondern weil er der Meinung war, dass kein anderer<br />
Stil Ordnung und Freiheit in einem so anschaulich<br />
darzustellen vermag. Und weil er<br />
durch praktische Rekonstruktionen in Athen so<br />
intime Kenntnisse der Antike erwarb, konnte er<br />
mit diesem Vokabular ziemlich frei, fast in<br />
einem musikalischen Sinn, fantasieren oder improvisieren,<br />
was wiederum die Basis für Erfindungen<br />
schuf. Ich glaube, der architektonische<br />
Erfindungsreichtum des Historismus ist noch<br />
nicht wirklich entdeckt.<br />
Grundlage oder Herausforderung zur Erfindung<br />
im Zusammenhang mit vergangenen Stilen war<br />
aber auch das Auftreten neuer Bauaufgaben, zukunftsweisender<br />
Raumkonzepte, neuer Gebäudetypologien<br />
wie Museen, Parlamente, Bahnhöfe,<br />
Bäder, Hotels, Schulen, Verkehrsanlagen oder<br />
Produktionsstätten. Die oft frei erfundenen historisierenden<br />
Kleider machten in Verbindung mit<br />
den konstruktiven Großleistungen erst richtig ihre<br />
Distanz zur Geschichte, <strong>als</strong>o den Fortschritt, sichtbar.<br />
Und noch ein Thema, das für den Schreibenden<br />
schweißtreibend sein kann: Jedes architektonische<br />
Objekt durchwandert seine Existenz mit<br />
zwei Geschwindigkeiten: Die langsame ist die<br />
substanzielle, die physikalische und chemische.<br />
Die Natur nimmt die Gebilde der Menschen sehr<br />
langsam zurück, der Verfall hängt von den Materialien,<br />
den klimatischen Bedingungen, der Abnutzung<br />
ab: Der Neubau ist auf jeden Fall ein Fremdkörper<br />
– eine gleißende Holzscheune in der Landschaft<br />
kann schon ein Ärgernis sein –, die Patina,<br />
die sichtbare Alterung, ist zunächst ein Schutz,<br />
suggeriert Bestand, ja ästhetischen Widerstand,<br />
die langsame Verrottung eine Auflösung <strong>als</strong> Naturprozess.<br />
Die zweite Geschwindigkeit der Veränderung entsteht<br />
durch die Wahrnehmung des Menschen. Ich<br />
erinnere an die allgemeine Bewertungskurve: zunächst<br />
Ablehnung; das Neue wird immer <strong>als</strong> existenzbedrohend<br />
empfunden. Generationskonflikt,<br />
„Vatermord“, Ignoranz – am gefährdetsten sind<br />
Bauten so um die 30 bis 50 Jahre –, Wiederentdeckung<br />
der Großelterngeneration, Dokumentation<br />
ihrer Werke, Beschreibung, Einordnung, Benennung<br />
und schließlich Verklärung oder gar Heiligsprechung.<br />
Meine Generation hat diese Metamorphosen<br />
vom Historismus und Jugendstil, Moderne<br />
der Zwischenkriegszeit – einschließlich Faschismus<br />
und Stalinismus – bis hin zur Architektur der<br />
1950- und 1960er-Jahre erlebt. In diesem Kontext<br />
betrachtet sind Architekturtexte Teil dieses Prozesses,<br />
oft auch in der Rolle <strong>als</strong> Beschleuniger.<br />
Zwei Ästhetiken<br />
Dabei könnte man von zwei Ästhetiken sprechen,<br />
einer Konzeptionsästhetik und einer Perzeptionsästhetik.<br />
Die Konzeptionsästhetik ist untrennbar<br />
mit einem Zeitpunkt der Geschichte verknüpft. Sie<br />
spiegelt die Kultur des Machens, des Erfindens,<br />
den künstlerischen Diskurs und den Geist in einer<br />
einmaligen gesellschaftlichen Situation wider. Allerdings<br />
steht dieser „Augenblick“ nicht still, er<br />
treibt im „Strom der Zeit“, bleibt allen kommenden<br />
Wahrnehmungen ausgesetzt und wird schließ-