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Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

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<strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>s pädagogische<br />

Konzeption des Schulmodells<br />

Tiefensee<br />

Schulentwicklung unter Ansprüchen politisch<br />

instrumentalisierter Reformpädagogik<br />

Einleitung<br />

Die exzellente Vorbereitung der Gedenktagung: �70 Jahre<br />

Tiefensee� im <strong>Reichwein</strong>Forum (RF Nr. 2, April 2003) erlaubt<br />

mir, meinen Beitrag zur pädagogischen Konzeption der<br />

Modellschule aus einem bisher ungewohnten Blickpunkt<br />

anzugehen. Mich interessiert die Frage, wie der<br />

Reformpädagoge <strong>Reichwein</strong> auf Forderungen des NS-<br />

Regimes reagierte, die sich ebenfalls auf reformpädagogische<br />

Traditionen beriefen, sie aber unverblümt zu politischen<br />

Zwecken instrumentalisierten. Und das genau im Bereich<br />

jener reformpädagogischen Strömungen, die für die<br />

Tiefenseer Schulpädagogik konstitutiv wurden: Werkerziehung<br />

und Landschulreform.<br />

Im Verlauf der Untersuchung stieß ich auf enge<br />

Verknüpfungen des Tiefenseer Werkerziehungskonzepts mit<br />

<strong>Reichwein</strong>s Realutopie des �Schaffenden Volkes�, die eine<br />

gesonderte Darstellung verlangten. So entstand folgende<br />

Gliederung des Beitrages:<br />

1. Politisch instrumentalisierter Werkunterricht und das<br />

Tiefenseer Werkerziehungskonzept - ein verdeckter<br />

Gegensatz<br />

2. �Dorfeigene Schule� oder weltoffene Schulwerkstatt?<br />

<strong>Reichwein</strong>s Position zur propagierten Landschulreform unter<br />

der NS-Herrschaft<br />

3. �Schaffendes Schulvolk� und <strong>Reichwein</strong>s konkrete Utopie<br />

des �Schaffenden Volkes�<br />

1. Politisch instrumentalisierter Werkunterricht und das<br />

Tiefenseer Werkerziehungskonzept � ein verdeckter<br />

Widerspruch<br />

1.1. �Das ist eine Kunst�<br />

Mit grimmigem Humor notiert <strong>Reichwein</strong>s Schwiegervater<br />

Ludwig Pallat, Leiter des �Deutschen Zentralinstituts für<br />

Erziehung und Unterricht� in Berlin, am Abend des 27. Januar<br />

1936 seine Eindrücke von der Eröffnung der<br />

�Reichsausstellung Luftfahrt und Schule� in seinem Tagebuch.<br />

Das Spektaculum war wenige Stunden zuvor in den Räumen<br />

des Zentralinstituts über die Bühne gegangen. Denn der<br />

Reichserziehungsminister Bernhard Rust hatte Pallat mit der<br />

Planung und Durchführung der Ausstellung in Absprache mit<br />

dem NSLB und der HJ beauftragt. Hausintern wurde der<br />

Experte für Ausstellungsdidaktik, Memmler, mit der<br />

Federführung der Aufgabe betraut. Den feierlichen<br />

Eröffnungsakt hatten Rust und der Luftfahrtminister Hermann<br />

Göring, der spätere Reichsmarschall, gemeinsam<br />

vorgenommen. Um die folgende Skizze zu verstehen, muss<br />

man noch wissen, dass der Ministerialbeamte Alfred Pudelko,<br />

von Rust als Stellvertreter Pallats ins Zentralinstitut zum<br />

Zwecke der Gleichschaltung der renommierten Einrichtung<br />

Monate zuvor postiert worden war, die beiden sich daher gut<br />

kannten und dass <strong>Reichwein</strong>, dessen Vorname vom<br />

Schwiegervater, wie im engeren Freundeskreis üblich, in<br />

amerikanisierter Form als Edolf ausgesprochen wurde, mit<br />

einem Stand der einklassigen Landschule Tiefensee in der<br />

13<br />

Nr. 4 / April 2004<br />

Ausstellung vertreten war. Ausgestellt wurden die von den<br />

Tiefenseer Schulkindern im Verlauf des Vorhabens �Wie sieht<br />

der Flieger eigentlich unsere Heimat?� hergestellten<br />

Modellflugzeuge.<br />

Da der Text ein Blitzlicht auf unser Thema wirft, zitiere ich die<br />

in Sütterlinschrift gefasste Tagebucheintragung nahezu<br />

ungekürzt:<br />

�Nachmittag 5 Uhr Eröffnung der Ausstellung. Beim Eintreffen<br />

von Göring und Rust Fanfaren vom Balkon. Göring schreitet<br />

die Front der Hitlerjugend ab. Pudelko und ich stehen vor dem<br />

Eingang zum Empfang bereit. Rust fragt, ohne uns<br />

anzusehen: �Wo ist der Führer?� Pudelko und ich wissen nicht,<br />

wen er meint. Pudelko tritt vor. Rust fragt: �Wer sind Sie?�<br />

Pudelko, die Hände an der Hosennaht: �Pudelko�. Rust<br />

wendet sich ab und steigt mit Göring die Freitreppe hinauf.<br />

Pudelko hinter ihm her. Sagt ihm, dass er da nicht zur<br />

Ausstellung gelange. Rust kehrt mit Göring um und geht nach<br />

der rechten Seite des Hauptgebäudes, ohne sich um Pudelko<br />

und mich zu bekümmern. Pudelko holt sie wieder zurück und<br />

bringt sie zum richtigen Eingang, links vor der Haupttreppe.<br />

Göring meint: �Endlich werden wir ja wohl hinein kommen.�<br />

Versuch, mich von Rust ihm vorstellen zu lassen. Beim Eintritt<br />

in den großen Saal Musik vom inneren Balkon, dann<br />

Hitlerjugendfanfaren vom Podium.<br />

Rede von Rust. Geht aus von der Unbeliebtheit der Schule<br />

(im Gegensatz zur Militärdienstzeit). Grund ihre Lebensfremdheit.<br />

Wandlung durch den NS. Die Ausstellung<br />

Beispiel dafür. Ergebnisse des Erlasses RU III 10. Dank an<br />

Göring. Ausstellung eröffnet (Kein Wort zum Zentralinstitut<br />

und NSLB, kein Dank an die Veranstalter und Mitarbeiter).<br />

Göring spricht im Gegensatz zu dem forcierten Ton von Rust<br />

sehr gelassen. Dankt Rust für die Einladung und für die<br />

Förderung der Luftfahrtbestrebungen durch die Schule.<br />

Spricht von der kritischen Zeit, in der unsere Absicht<br />

aufzurüsten, im Ausland bekannt war, wir aber noch keine<br />

Flugzeuge hatten. Jetzt (aber) schon so viele, dass wir uns<br />

wehren können. Werden aber nie so viele haben können, wie<br />

die eventuellen Feinde (inclusive Sowjetrussland). Müssen<br />

durch Leistung ersetzen, was uns an Zahl fehlt. Höchste<br />

Anforderungen an Flieger, die Monteure und Ingenieure. Die<br />

Schule muss vorarbeiten. Göring schließt mit Sieg Heil auf<br />

Hitler. Nationalhymne. Horst Wessel�Lied. Dann Führung<br />

durch die Ausstellung. Memmler erklärt�. Göring stark<br />

interessiert und im Gegensatz zu Rust jovial�. Zur<br />

Ausstellung von Edolfs Schule sagt Rust: �Fabelhaft!� und zu<br />

Göring gewandt: �Das deutsche Volk ist doch nicht tot zu<br />

kriegen!� Memmler stellt Edolf vor. Göring, dem Rust erklärt,<br />

was eine einklassige Landschule ist, fragt Edolf, wie er es<br />

mache, Kinder von 6 bis 14 Jahren gleichzeitig zu<br />

unterrichten. Edolf darauf: �Das ist eine Kunst.� Nach dem<br />

Schluss der Führung wendet sich Rust zu mir und sagt (mit<br />

Bezug auf die Ausstellung): �Sehr nett.�� (Vgl. Geh.<br />

Staatsarchiv Berlin: Tagebücher L. Pallat, Rep. 92, Pallat<br />

1935/36, Berlin X, 27.01.1936 )<br />

1.2. Lehrkunst und Erziehungsweg<br />

Die Tendenz der Ausstellung wird in den beiden Ministerreden<br />

offen ausgesprochen. Rust, der Erziehungsminister, nimmt<br />

mit dem Gegensatz der lebensfremden Schule zur politisch<br />

aktuellen Werkarbeit eine Denkfigur der Arbeitsschulbewegung<br />

für den NS in Anspruch. Hier nun aber wird der<br />

Gedanke von den individuellen Lernbedürfnissen der Kinder<br />

völlig los gelöst und als Legitimation für eine Maßnahme<br />

genutzt, die unzweideutig dem politischen Zweck der

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