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Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

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neu zur Geltung bringen musste. Diese Auffassung hatte<br />

<strong>Reichwein</strong> bereits beim Kampf Beckers mit der Volksschullehrerschaft<br />

vertreten.<br />

<strong>Reichwein</strong> ist einer der vielen Pädagogen nach dem Ersten<br />

Weltkrieg, die ihre Arbeit mit dem hohen Anspruch des Volkserziehers<br />

begonnen haben: bei der Tagung des <strong>Adolf</strong>-<br />

<strong>Reichwein</strong>-<strong>Verein</strong>s in Rosbach 1998 habe ich den Versuch<br />

gemacht, von daher sein Denken und Verhalten als durchgehend<br />

bildungspolitisch bestimmt zu beschreiben. 64<br />

Seine sozialistische Orientierung ließ ihn stärker als andere<br />

an der Überwindung der Spaltung des Volkes arbeiten. Ziel<br />

war die Einheit des Volkes bzw. der Nation, selbstverständlich<br />

auf historischer Grundlage. Er wollte durch Erziehung die Arbeiter<br />

ermächtigen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen,<br />

und so den Sozialismus herbeiführen. 65 Liest man das �Schaffende<br />

Schulvolk� vor diesem Hintergrund, gibt es keinen Hinweis,<br />

dass <strong>Reichwein</strong> davon abgerückt wäre. Allerdings hatte<br />

er es nun � zum ersten Mal in seinem Leben � mit Kindern zu<br />

tun; das Ziel war nun elementarer, aber es passte in seine<br />

bisherige explizit politische Aufgabe. Die jungen Menschen<br />

sollten wahrhaft selbstständig und frei werden � <strong>Reichwein</strong><br />

bezog jeden didaktischen Schritt auf dieses Ziel hin. Schule<br />

war für ihn kein Selbstzweck, im Schulalltag wurden die<br />

grundlegenden Ziele nicht wie üblich vergessen oder auf<br />

Sonntagsreden geschoben, sondern er machte sich bei jedem<br />

Schritt, das jedenfalls legt das �Schaffende Schulvolk� nahe,<br />

Gedanken über die erzieherischen Ziele für die ihm anvertrauten<br />

jungen Menschen. �Unsere Erziehung ist wesentlich eine<br />

politische, dh. Wir erziehen Menschen zum Gemeinsinn, zum<br />

Sein und Handeln in der Gemeinschaft.� 66<br />

Seine Position ist darüber hinaus historisch-politisch geprägt.<br />

Im �Schaffenden Schulvolk� erklärt er immer wieder, dass man<br />

an einer Zeitwende stehe und an dem Herbeiführen einer<br />

neuen Zeit arbeite. �Wir leben [...] heute im schöpferischen<br />

Augenblick des Erziehers [...]. Er selbst wirkt mit am Gewebe<br />

einer neuen Tradition.� 67 ��Darum wird dieses Buch geschrieben:<br />

An die Erzieher gerichtet, als kameradschaftlicher Beitrag<br />

zur Schule unseres jungen Volkes, und an die Eltern als<br />

ermunternder Hinweis: Seht, so schafft eine lebendige Schule<br />

heut mit am Gewebe einer neuen Zeit.� 68 � �Kinder erziehen<br />

heißt: von der Zukunft her leben.� 69<br />

In der Kreisauer Denkschrift ist das Pathos des Volkserziehers<br />

wiederum, dieses Mal in der radikalen Negierung des<br />

NS-Staates, spürbar. �Aus der vorliegenden Situation ergibt<br />

sich die Notwendigkeit einer straffen Durchformung und Willensgebung<br />

für das gesamte Schulwesen unter dem Gedanken<br />

einer einheitlichen Gesittung und einheitlicher inhaltlicher<br />

Bestimmung.� 70<br />

64 Dieter Wunder (Anm. 52).<br />

65 In diesen Zusammenhang ordne ich die Prerower Ausführungen<br />

über Erziehung von 1932: hier geht es um die politische Erziehung<br />

der Erwachsenen (Pallat, S. 389f.).<br />

66 Schulvolk, S. 54.<br />

67 Schulvolk, S. 31f.<br />

68 Schulvolk, S. 147.<br />

69 Schulvolk, S. 148<br />

70 Kreisau, S. 104.<br />

34<br />

Nr. 4 / April 2004<br />

V. Ein kritischer Blick auf die <strong>Reichwein</strong>sche Reformpädagogik<br />

Die Differenz der Ziele bei PISA und <strong>Reichwein</strong> ist schwerer<br />

zu ermitteln, als es auf den ersten Blick scheint. PISA geht es<br />

um �Basiskompetenzen [...], die in modernen Gesellschaften<br />

für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und<br />

wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am<br />

gesellschaftlichen Leben notwendig sind.� Ergänzt man diese<br />

betont nüchterne Formulierung der Ziele um zwei Aspekte, die<br />

sich für die PISA-Autoren dem ganzen Zusammenhang nach<br />

von selbst verstehen, die Selbstständigkeit des modernen<br />

Menschen sowie das Leben in einer demokratischen Gesellschaft,<br />

so ist auf dieser allgemeinen Ebene ein inhaltlicher<br />

Dissens zu <strong>Reichwein</strong> nicht gegeben. Könnte man daher die<br />

PISA-Philosophie als die überfällige Operationalisierung der<br />

Reformpädagogik deuten, als das, was übrigbleibt von der<br />

schönen Reformrhetorik, wenn man überprüfbar formuliert,<br />

was man will? PISA wie <strong>Reichwein</strong> geht es nicht um Bildung,<br />

sondern um Lebensbewältigung. PISA zielt auf Kompetenzen<br />

des privaten und ökonomischen Subjekts wie des Bürgers,<br />

<strong>Reichwein</strong> um �Tugenden� für das Arbeits- und Gemeinschaftsleben.<br />

Über <strong>Reichwein</strong>s Pädagogik im Zeitalter von PISA nachzudenken,<br />

erfordert, seinen reformpädagogischen Ansatz einer<br />

kritischen Prüfung zu unterziehen. Die heutige Position der<br />

Erziehungswissenschaftler ist gespalten. Neben den Befürwortern<br />

der Reformpädagogik stehen die einflussreichen Kritiker<br />

� ich nenne insbesondere Jürgen Oelkers, der nach seiner<br />

grundsätzlichen historischen Auseinandersetzung mit der<br />

Reformpädagogik jetzt ihr bildungspolitisch die Grenzen zu<br />

zeigen versucht. In �Wie man die Schule entwickelt�(2003) beruft<br />

er sich auf Diane Ravitchs Kritik der amerikanischen Reformpädagogik<br />

und skizziert � vor Kenntnis von IGLU allerdings<br />

� eine Grundschulpädagogik, die sich von der Reformpädagogik<br />

abwendet. �Der Beitrag der Schule zur Bildung der<br />

Schüler ist vor dem Hintergrund von Qualitätsanforderungen<br />

zu sehen. Dabei ist vom Kerngeschäft Unterricht auszugehen<br />

und muss �Schulqualität� auf dieses Kerngeschäft bezogen<br />

werden. Was dem Kerngeschäft nicht nutzt, ist zweitrangig<br />

oder überflüssig.� 71 Gehört also die Reformpädagogik ins Archiv<br />

der Jugendbewegung nach Ludwigstein, nicht aber in die<br />

Praxis der Schulen?<br />

Das Erbe der Reformpädagogik in der Gestalt <strong>Reichwein</strong>s will<br />

ich zum Abschluss in wenigen Aspekten kritisch erörtern.<br />

1. Heute ist die Aufspaltung der ursprünglichen Einheit von<br />

Erziehung, die die Reformpädagogik wieder herstellen wollte,<br />

gängiges Verhalten, also die Trennung von Moral und Bildung.<br />

In der traditionellen deutschen Pädagogik war diese<br />

Aufspaltung gesellschaftspolitisch funktional, weil Bildung im<br />

Mittelpunkt der Eliteerziehung stand. Heute trägt die Trennung<br />

zu einer wohltuenden Nüchternheit in der Erörterung des pädagogischen<br />

Tuns bei. Sie führt allerdings dazu, dass wir es<br />

nicht mehr wagen, ein Gesamtkonzept schulischer Erziehung<br />

(und Bildung) in praxi zu verfolgen.<br />

<strong>Reichwein</strong> hatte ein Erziehungskonzept von Schule und Unterricht.<br />

Die erzieherische Dimension von Schule ist dabei<br />

kein überschießender Aspekt von Unterricht, nicht Ausdruck<br />

des Unterricht Ergänzenden, sondern Kerndimension von Unterricht.<br />

Ist eine solche Konzeption von Schule heute noch<br />

sinnvoll? Wenn Oelkers die Reformpädagogik als zu allge-<br />

71 J. Oelkers, Wie man ...(Anm. 27), S. 59.

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