Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
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der �Mitsteuerung�) in die Gestaltung des Prozesses einbezogen.<br />
Dem Ansatz der in organisch-genetischen Bauformen (Wuchsformen)<br />
und dynamischen Interaktionsstrukturen realisierten<br />
Lehrkunst - Didaktik <strong>Reichwein</strong>s entspricht das Kunstverständnis,<br />
das Goethe während seiner Italienischen Reise als<br />
Ergebnis der Begegnung mit der mediterranen Pflanzenwelt<br />
sowie mit den Bauwerken und Skulpturen der Antike in die<br />
Formulierung fasste: �Diese hohen Kunstwerke sind zugleich<br />
als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und<br />
natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden.� 7<br />
2.2. Zur Durchführungsform (Methode)<br />
Auf dem Hintergrund unserer Ausführungen zum Verlauf und<br />
zur Bauform des Unterrichts ist es möglich, die Antwort auf die<br />
Frage: �Was ist goethisch am erdkundlichen Vorhaben <strong>Reichwein</strong>s?�<br />
unter methodischem Aspekt mit Blick auf die Prinzipien<br />
der �vergleichenden Morphologie� Goethes 8 noch weiter<br />
auszudifferenzieren.<br />
Welches sind diese Prinzipien?<br />
1. Gegenstand sind morphologische Phänomene, die der unmittelbaren<br />
sinngerichteten Anschauung zugänglich sind.<br />
2. Die Phänomene werden hinsichtlich �Übereinstimmung und<br />
Verschiedenheit� durch �Sonderung und Vergleich der Gestalten�<br />
in oftmals genetischer Reihung geprüft.<br />
3. Maßgeblich ist die Absicht, im Anschauen und Vergleichen<br />
des jeweils Besonderen das zugrunde liegende Allgemeine zu<br />
finden: den Typus (Blatt, Wirbel) und den Urtypus ( �Urpflanze�,<br />
�Urtier�).<br />
<strong>Reichwein</strong> folgt diesen Prinzipien, indem er<br />
1. seinen Kindern ein Bild von ausgewählten Bereichen<br />
der Erdoberflächen - Morphologie in der Anschauung<br />
(Realanschauung, modellhafte Visualisierung, Veranschaulichung)<br />
vermittelt,<br />
2. die in der Anschauung erfassten geographischen<br />
Phänomene miteinander vergleicht,<br />
3. Anschauung und Vergleich darauf anlegt, am Besonderen<br />
das grundlegend Allgemeine in landschaftsgeographischer<br />
und lebenskundlicher Perspektive zu<br />
erfassen.<br />
(Entsprechendes gilt, prinzipiell betrachtet, für die Phänomen-<br />
Physik Martin Wagenscheins.) 9<br />
2.3. Kommentierung unter didaktischem und bildungstheoretischem<br />
Aspekt<br />
Meine Ausführungen zur Bauform und Methode des Vorhabens<br />
möchte ich nicht schließen, ohne die (den thematischen<br />
Rahmen meines Vortrages überschreitende) Frage nach deren<br />
Bedeutung unter didaktischem und bildungstheoretischem Aspekt<br />
zu stellen.<br />
1. Der Vorhabendidaktiker ermöglichte es seinen Kindern, im<br />
Mitvollzug der Herleitung, der Verzweigung und der Verknüpfung<br />
der Lernwege den Zusammenhang des �Ganzen und seiner<br />
Teile� durchschauen, verstehen und als lebendige Grundlage<br />
weiterer Lernprozesse bereithalten zu können. �Das Vorhaben<br />
ist eine Arbeitsform des erziehenden Unterrichts�, wie<br />
der Architekt formstrenger didaktischer Gebilde formuliert, �die<br />
Mannigfaltiges zur Ganzheit fügt, zu einem Gefüge rafft und<br />
webt, was sich sonst als einzelner Faden im Strom des Unterrichts<br />
verlöre, zu einer Gestalt, die wie jede lebendige Einheit<br />
vom Kinde �angeschaut� und auf seine kindliche Weise auch<br />
begriffen werden kann.� 10 ��Es kann auch�, so der bemerkenswerte<br />
Zusatz, �als geistiges Modell begriffen werden, innerhalb<br />
dessen sich all unser Wissenswerk ordnet und aufbaut.� 11<br />
25<br />
Nr. 4 / April 2004<br />
2. Im Vorhaben wird jene �doppelseitige Erschließung� ermöglicht,<br />
die Klafki als Leitformulierung Kategorialer Bildung in die<br />
Formulierung fasst: �Diese doppelseitige Erschließung geschieht<br />
als Sichtbarwerden von �allgemeinen� Inhalten auf der<br />
objektiven Seite und als Aufgehen �allgemeiner� Einsichten, Erlebnisse,<br />
Erfahrungen auf der Seite des Subjekts. Anders formuliert:<br />
Das Sichtbarwerden von �allgemeinen� Inhalten auf der<br />
Seite der �Welt� ist nichts anderes als das Gewinnen von �Kategorien�<br />
auf der Seite des Subjekts.� 12 Für das hier gemeinte<br />
�Allgemeine� steht, in fachdidaktischer Perspektive betrachtet,<br />
der an ausgewählten Phänomenen erschlossene Zusammenhang<br />
zwischen Natur- und Kulturlandschaft (Boden, Klima �<br />
Verkehrslinien, Siedlungsformen). Es bezeichnet überdies ein<br />
überfachliches Erklärungsmuster, das für das Verständnis von<br />
Selbst und Welt in der Perspektive der namentlich von Herder<br />
und Goethe eingeleiteten geistesgeschichtlichen Epoche von<br />
grundlegender Bedeutung ist: die Auffassung der �Natur- und<br />
Menschenwelt� in der Perspektive der Lebenskategorien und<br />
von den Naturgrundlagen her. 13 Und es symbolisiert in einer<br />
noch fundamentaleren Bedeutungsdimension die Möglichkeit,<br />
das im Vorhaben erarbeitete Weltwissen in �geistigen Modellen�<br />
zu fassen, deren morphologische Sinnstruktur von den<br />
Lebens - Grundformen (Schneekristall, Metamorphose) geprägt<br />
ist. Damit ist eine Dimension im Denken und Gestalten<br />
des Reformpädagogen und Sozialisten <strong>Reichwein</strong> angesprochen,<br />
die auf die klassische Metaphysik (Kosmostheorie) und<br />
damit zugleich auf die ontologischen Grundlagen deutscher<br />
Bildungsphilosophie verweist.<br />
3. Was ist �goethisch� an der lebenskundlichen Deutung<br />
der geographischen Phänomene? (Zur �Formenkunde�<br />
<strong>Reichwein</strong>s)<br />
<strong>Reichwein</strong> folgt mit der lebenskundlichen Sicht der geographischen<br />
Phänomene einem Grundgedanken, der von allgemeiner<br />
Bedeutung für sein Weltverständnis (und das Goethes) ist:<br />
Die Erscheinungsform der sichtbaren Dinge, der Naturformen<br />
und Artefakte, ist Ergebnis und Ausdruck gesetzmäßiger Gestaltung.<br />
Er entfaltet diesen Grundgedanken im 3. Kapitel des<br />
Schaffenden Schulvolkes, das von den �einfachen Formen�<br />
handelt. Der Didaktiker beschreibt unter diesem Begriff zunächst<br />
die �einfachen Bauformen alles Erziehens�. Er wendet<br />
sich sodann im Abschnitt �Vom Sehen� den Erscheinungen der<br />
materiellen Welt als Gegenstand einer �Formenkunde� zu, die<br />
das Kind schon in den ersten Schuljahren dazu anleiten soll,<br />
sich an �einfachen lebendigen Dingen einen Kanon von<br />
Grundformen zu erarbeiten�. Diese Aufgabe steht im Dienste<br />
einer Geschmackserziehung, die auf �Erneuerung der Volkskunst�<br />
in Absicht einer durchgreifenden Reform des Wohnund<br />
Lebensstils zielt. 14 Die vorliegende Interpretation geht<br />
ebenfalls von diesem Aspekt der �Formenkunde� aus. Es wird<br />
aber zugleich versucht, mit der Frage nach dem �Goethischen�<br />
eine noch grundlegendere Perspektive aufzuschließen.<br />
3.1. Zum �Kanon der Grundformen�<br />
Welche Phänomene gehören zu den �Grundformen� der von<br />
<strong>Reichwein</strong> konzipierten �Formenschule�?<br />
Der Auskunft erteilende Basistext 15 beginnt mit der Formulierung<br />
des gedanklichen Leitmotivs:<br />
�In der Naturstoffkunde stoßen wir immer wieder auf die nahe<br />
innere Verwandtschaft der Natur- und Kunstformen. Ja, gerade<br />
die Betrachtung der Naturformen als Formwerte führt uns<br />
immer wieder von neuem zu der Entdeckung, dass jede Form<br />
in Gesetzmäßigem begründet ist.�