Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
mein oder als Sprachspiel abkanzelt, 72 dann hat er sich ein zu<br />
einfaches Bild von ihr gemacht. <strong>Reichwein</strong>s konkrete Erziehungsziele<br />
sind im Prinzip durchaus sinnvoll, auch wenn man<br />
im einzelnen über sie streiten kann. Ein Erziehungskonzept<br />
von Schule zurückzugewinnen, ist allerdings mangels ausführlicher<br />
Vorarbeiten ein schwieriges Unterfangen.<br />
2. Im Pädagogischen Handbuch von Nohl und Pallat unterscheidet<br />
Heinrich Deiters 73 für seine Gegenwart (1928) das<br />
Ringen zweier Formen der Schule, der �Bildungsschule� und<br />
der �Lebensschule�, erstere als �Schule, die von den objektiv<br />
gegebenen Kulturwerten ausgeht�, letztere hat als �Mittelbegriff<br />
das Leben der Zeit�. Offensichtlich grenzt sich <strong>Reichwein</strong><br />
deutlich gegen die Bildungsschule ab und plädiert für die Lebensschule,<br />
auch wenn man die Deiterschen Begriffe nicht<br />
ohne weiteres mit <strong>Reichwein</strong>s Vorstellungen gleichsetzen<br />
darf. Die Sichtunterschiede haben ihre Wurzeln im 19. Jh.: die<br />
Bildungsschule setzt die gymnasiale Tradition fort, die Lebensschule<br />
die der Volksschule. 74 In <strong>Reichwein</strong> verbindet sich<br />
die kritische Sicht der Jugendbewegung auf die Lebensferne<br />
des Intellektualismus, der Gebildeten, 75 des Positivismus, 76<br />
der Universitäten mit dem Selbstbewusstsein der pädagogischen<br />
Bewegung.<br />
Die Auseinandersetzungen der Gegenwart um die richtige<br />
Gestalt von Schule hat mit diesen historischen Prägungen<br />
durchaus zu tun. Wer am traditionellen Gymnasium trotz allen<br />
Wandels festhält, setzt die Bildungsschultradition fort; wer die<br />
Öffnung von Schule, die Ganztagsschule, die Schule als Lebensraum<br />
vertritt, setzt die Tradition der Lebensschule fort.<br />
Auch PISA setzt auf die Bildungsschule, denn es geht zumindest<br />
in der Wirkung um die harten Fächer, <strong>Reichwein</strong> aber<br />
handelt vom Ganzen der Schule als Erziehungsstätte.<br />
3. Hat Schule im erörterten Sinne eine Erziehungsfunktion,<br />
dann ist es durchaus erwägenswert, der Lehrperson dabei eine<br />
hervorragende Aufgabe, eine Führungsfunktion, zuzuschreiben.<br />
Ein Erzieher muss Ziele setzen. Allerdings gilt es<br />
auch hier, kritische Einwände zu beachten: Wenn Oelkers in<br />
seiner Skizze einer Theorie der Erziehung ein neues demokratisches<br />
Bild von Erziehung � dekonstruierend gegen das<br />
bisherige Verständnis � entwirft, dann entspricht dies unserem<br />
demokratischen Denken. �<strong>Eine</strong> demokratische Theorie<br />
der Erziehung verlangt deliberative Formen der Kommunikation<br />
und Begründung, die ausschließen, dass ausgerechnet die<br />
Pädagogik sich auf autoritäre Doktrinen zurückziehen kann.<br />
Alternative Zugänge zur Erziehungstheorie müssen den Ges-<br />
72 Vgl. J. Oelkers, Schulreform und Schulkritik (s. Anm. 32 ) oder<br />
Winfried Böhm, J Oelkers (Hg), Reformpädagogik kontrovers, Würzburg<br />
1995.<br />
73 H. Deiters, Die Lebensform der Schule, in: Herman Nohl, Ludwig<br />
Pallat (Hrsg.), Handbuch der Pädagogik Band 1-4, Langensalza<br />
1928-1933, hier 4. Band: Die Theorie der Schule und der Schulaufbau<br />
1928, S.3f. - K. F. Sturm (Die pädagogische Reformbewegung, Osterwieck<br />
1930) unterscheidet �alte� und �neue� Schule.<br />
74 Zu diesen Unterschieden vgl. etwa Heinz-Elmar Tenorth, Allgemeinbildung<br />
im schulischen Kontext � oder die Unausweichlichkeit<br />
des Kanon-Problems (unveröff. Ms. 2003).<br />
75 Schulvolk, S. 128.<br />
76 Kreisau, S. 103: � Es muß im Ansatz schon vermieden werden,<br />
daß Lehre und Erziehung auseinanderfallen in einen innerlich ungerichteten<br />
Sachunterricht positivistischer Prägung und eine lehrmäßige<br />
Vermittlung der religiösen Gehalte.���Lehrer und Hochschullehrer entstammen<br />
fast ausnahmslos einem Zeitalter positivistischer Wissenschaft.�<br />
35<br />
Nr. 4 / April 2004<br />
tus des Verkündens beseitigen und die Neigung zur Selbstpädagogisierung<br />
bekämpfen.� 77<br />
4. <strong>Reichwein</strong> sieht sich als einen, der weiß, worin die Aufgabe<br />
der Erziehung besteht. Er gehört zu den Wissenden und<br />
Berufenen, die ihr Volk führen wollen. Ihm sind wesentliche<br />
Merkmale der heutigen Gesellschaft wie Pluralismus, Individualismus,<br />
Postmoderne, Brüche und Zweifel fremd. Das<br />
Sendungsbewusstsein <strong>Reichwein</strong>s gehört für uns einer vergangenen<br />
Welt an, ich meine, zu recht. In einer demokratischen<br />
Gesellschaft gilt ungeachtet aller Unterschiede von<br />
Wissen und Einsicht die grundsätzliche Gleichheit der Experten<br />
und Laien.<br />
Aber, das Sendungsbewusstsein <strong>Reichwein</strong>s kann man auch<br />
als die emphatische Bejahung der gesellschaftlichen Aufgabe<br />
verstehen, die die Lehrperson einer öffentlichen Schule hat.<br />
Wer die Jugend zu einem Denken und Verhalten führen will,<br />
das von Aufklärung, Völkerverständigung, Anerkennung anderer<br />
Menschen bestimmt ist, der hat klare Ziele vor Augen, die<br />
mit dem Begriff �Volkserziehung� durchaus beschrieben werden<br />
könnten. Kritikern ist allerdings zuzustimmen, wenn sie<br />
für diese Erziehung demokratische Regeln fordern � ein junger<br />
Mensch hat sein Eigenrecht und muss über Einsicht, nicht<br />
Überwältigung, zu Zielen geführt werden, die in einer demokratischen<br />
Gesellschaft zukunftsfähig sind.<br />
Dieter Wunder<br />
Möglichkeiten der Realisierung<br />
der schulpädagogischen<br />
Konzeption <strong>Reichwein</strong>s in der<br />
voll gegliederten Schule<br />
der Sekundarstufe I<br />
Wert und Wirksamkeit<br />
jeder Erziehungsgemeinschaft<br />
ist untrüglich am Stande<br />
ihrer Sorgenkinder abzulesen.<br />
<strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong><br />
Jedes Kind soll nach seinem<br />
eigenen Rhythmus wachsen können.<br />
Das ergibt jene natürliche Wachstumssymphonie,<br />
in die auch der unbedeutende Ton<br />
sich einschmiegen darf,<br />
um in der Verbundenheit mit den anderen<br />
seinen eigenen Wert zu erleben<br />
und mit empor gerissen zu werden.<br />
<strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong><br />
Nehmen wir diese Gedanken <strong>Reichwein</strong>s in ihrem pädagogischen<br />
Anspruch ernst, dann sind sein pädagogischer Geist<br />
und unser auf frühe Selektion ausgerichtetes, gegliedertes<br />
Schulsystem ein Widerspruch in sich. Deshalb will ich vor<br />
meine Ausführungen die Forderung stellen:<br />
77 Oelkers, Einführung (Anm. 40), S. 266.