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Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

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sen � vor der gefährlichen Aufspaltung des �Gebildeten� [...] er<br />

nimmt gern ein Wissen an, das ihm lebensnah erscheint und<br />

sich laiengemäß auf das Bedeutsame beschränkt.� 23 Dem<br />

�Schaffenden Schulvolk� liegt ein umfassendes Bildungskonzept<br />

zugrunde, wie die Abschnitte über die Durchsichtigkeit<br />

der Formen, etwa �Vom Sehen� und �Vom Hören�, zeigen.<br />

<strong>Reichwein</strong>s Erziehungskonzept steht dem, was wir früher unter<br />

�volkstümlicher Bildung� verstanden, nahe. <strong>Eine</strong> wissenschaftsorientierte<br />

oder �basierte Bildung als Grundlage schulischer<br />

Bildung für alle lehnt er ab, das zeigen seine vielfachen<br />

Äußerungen in verschiedenen Lebensabschnitten über<br />

Gebildete oder Intellektualismus.<br />

<strong>Reichwein</strong>s Schulkonzept geht allerdings über einen Kanon<br />

weit hinaus. Die Differenz zwischen <strong>Reichwein</strong> und dem heutigen<br />

Schulverständnis liegt darin, dass <strong>Reichwein</strong> in der kleinen<br />

Landschule Tiefensee ein erzieherisches Gesamtkonzept<br />

verwirklichen konnte, unser Schulverständnis aber weitgehend<br />

unterrichtlich-fachlich geprägt sind. Die Bestimmung der<br />

Grenzen von Schule, die Konzentration auf Unterricht, die so<br />

verschiedene Erziehungswissenschaftler wie Giesecke, Oelkers<br />

oder Tenorth fordern, und die Unterstützung, die dieses<br />

Konzept in der Öffentlichkeit hat, weist auf die Stärke des<br />

herrschenden Schulverständnisses hin.<br />

III. Das Verständnis von Erziehung<br />

Die Erziehungsaufgabe der Schule ist nicht Gegenstand von<br />

PISA, sie ist dessen Sprache auch fremd, obwohl für die anderen<br />

PISA-Länder die deutsche Unterscheidung von Bildung<br />

und Erziehung unverständlich ist. Zedler wie Fuchs jedenfalls<br />

vermissen den erzieherischen Aspekt in den large-scaleassessements.<br />

Ich meine demgegenüber, die PISA-<br />

Philosophie schließe im Prinzip Erziehung nicht aus. PISA<br />

setzt sich in zwei Kapiteln mit Zielen auseinander, die in der<br />

älteren Sprache als Erziehungsziele zu kennzeichnen wären,<br />

in der PISA-Sprache als Lernkompetenzen: �Selbstreguliertes<br />

Lernen� und �Kooperation und Kommunikation� werden beschrieben<br />

und gemessen. 24 Versuchte man, <strong>Reichwein</strong>s Erziehungsbegriff<br />

im PISA-Denken stärker zu verankern� ginge<br />

es �nur� darum, ob etwa auf der großen Fahrt, einem der zentralen<br />

Erziehungsvorhaben <strong>Reichwein</strong>s, nachweisbar(!) Basiskompetenzen<br />

ausgebildet oder weiterentwickelt werden, die<br />

zur Lebensbewältigung notwendig sind. Solche Kompetenzen<br />

müssten erfassbar sein, möglicherweise mit Einschränkungen<br />

und nur auf sehr komplizierte Weise. Die tatsächliche Problematik<br />

der PISA-Philosophie bestünde in der schon erörterten<br />

faktischen Gewichtung unterschiedlicher Aufgaben von Schule.<br />

Für <strong>Reichwein</strong>s Schulverständnis ist die Erziehungsaufgabe<br />

zentral, �Erziehung� beschreibt sein Schulverständnis. Im<br />

�Schaffenden Schulvolk� fällt die permanente Verwendung der<br />

Begriffe �Erziehung�, �erzieherisch�, �Erzieher� auf. Der Begriff<br />

Unterricht kommt seltener vor, Lehrer fast gar nicht, und<br />

wenn, dann eher negativ, obwohl doch �Schaffendes Schulvolk�<br />

die konkrete Beschreibung eines Schulversuchs darstellt.<br />

Auch dann, wenn es �nur� um gute didaktische und methodische<br />

Einfälle geht, meidet <strong>Reichwein</strong> den Begriff Lehrer<br />

und schreibt vom Erzieher.<br />

�Das Kind �unterrichtet� sich, indem es selbsttätig, vom Erzieher<br />

geführt, spielt, versucht und wirkt, liest, erfährt und lernt.<br />

Und all dieses Bemühen kreist um die Welt, in der es lebt und<br />

sich bewähren muss. Dieser �Unterricht� ist das Kernstück,<br />

23 Schulvolk, S. 127f.<br />

24 PISA 2000, Kapitel 6 und 7.<br />

31<br />

Nr. 4 / April 2004<br />

vielleicht das schwierigste Stück unserer Erziehung. Fast alle<br />

Beispiele, die wir uns aus unserer Arbeit gaben, gehören zu<br />

diesem Unterricht im engen Sinne. Wer mit einem alten, verlebten<br />

Begriff von Unterricht an ihre Betrachtung ginge, könnte<br />

vielleicht vermuten, dass hier gar nicht von Unterricht die<br />

Rede sei, weil er nämlich darunter noch die einseitige �Belehrung�<br />

von Seiten des �Lehrers� verstünde. In Wirklichkeit hat<br />

dieser Unterricht früheren und verbrauchten Stils einen Gestaltwandel<br />

durchgemacht. Er ist in der verjüngten Form der<br />

selbsttätigen Erziehungsgemeinschaft wiederauferstanden.� 25<br />

Offensichtlich liegt <strong>Reichwein</strong> zwar an gutem Unterricht � man<br />

kann sich an der Fülle der Einfälle und Ergebnisse begeistern<br />

-, aber ihm geht es in der Darstellung primär um die durch Unterricht<br />

verfolgten Erziehungsziele, nicht um konkrete Lernergebnisse.<br />

�Denn Erziehung heißt, zum Wesen der Dinge zu<br />

führen; zum eigenen Können und zum Begreifen der um uns<br />

wirkenden Welt.� 26 <strong>Reichwein</strong> zielt auf das Verhalten der Kinder.<br />

Sie sollen auf den eigenen Weg gebracht werden ,27 aus<br />

freiem Antrieb und mit Lust arbeiten, Freude an der Leistung<br />

haben .28 Der Erzieher hilft dem Kind, die �Sitte� zu entwickeln,<br />

den Sinn für Ordnung und geordnete Leistung; der Eifer soll<br />

gestählt, der Wetteifer aufgebaut, die persönliche Einordnung<br />

in einen Aufgabenkreis erfahren werden; Sorgfalt und Sachlichkeit<br />

sind einzuüben. �Übung und ihr dauerhafter Niederschlag<br />

in Gewohnheit und Sitte wirkt als bleibende formbildende<br />

Kraft fürs ganze Leben.� 29 Man könnte von der Didaktik<br />

der Erziehung sprechen. Der Unterricht wird auf erzieherische<br />

Wirkung hin geprüft, die Erziehungsaufgabe bestimmt<br />

den Unterricht.<br />

Meyers Konversationslexikon von 1888 �versteht [...] unter Erziehung<br />

die absichtliche und planmäßige Einwirkung der Erwachsenen<br />

auf die Unmündigen, welche den natürlichen Vorgang<br />

des Erwachsens begleitet und wie dieser in der natürlichen<br />

Reife, so ihrerseits in der geistigen Mündigkeit der Erzogenen<br />

ihren Zielpunkt findet. “30 Diese Definition formuliert den<br />

damals gängigen Oberbegriff für das, was wir heute häufig<br />

trennen. Im Alltagssprachgebrauch und in der erziehungswissenschaftlichen<br />

Diskussion werden im deutschen Sprachgebrauch<br />

die Begriffe Erziehung und Bildung auseinandergehalten,<br />

Unterricht hat mit Bildung, 31 Erziehung mit Moral zu<br />

tun. 32 Offensichtlich hat sich � wohl erst in den letzten 30 Jahren<br />

- eine sprachliche Verschiebung ergeben, die beide Aspekte<br />

des Erziehungsprozesses trennt, dementsprechend<br />

muss man sich seither um die Beziehung beider Begriffe, ihre<br />

Trennung oder Einheit bemühen. Besonders deutlich wird unser<br />

Sprachgebrauch in den unterschiedlichen Berufsbezeichnungen<br />

Erzieher/in und Lehrer/in; <strong>Reichwein</strong> sah sich selbst-<br />

25 Schulvolk, S. 118.<br />

26 <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>, Film in der Schule, S. 211 (in: <strong>Reichwein</strong>, Schaffendes<br />

Schulvolk � Film in der Schule, Weinheim 1993), zitiert als<br />

Film.<br />

27 Schulvolk, S. 42.<br />

28 Schulvolk, S. 34.<br />

29 Schulvolk, S. 32-38.<br />

30 Meyer 1888, Bd. V, S. 834.<br />

31 Peter Fauser (Wozu die Schule da ist, in: P. Fauser (Hrsg.) Wozu<br />

die Schule da ist. <strong>Eine</strong> Streitschrift, Velber 1996, S. 75-88) wirft etwa<br />

Giesecke vor, sein Konzept sei das der �klassisch modernen Unterrichtsschule�<br />

(S. 87).<br />

32 Vgl. Annegret Eickhorst, Schulpädagogik - Strukturlinien und Problemlagen,<br />

in: Leo Roth (Hrsg), Pädagogik Handbuch für Studium und<br />

Praxis, München 2001 2.A., S. 724-742; Jürgen Oelkers, Wie man<br />

Schule entwickelt, Weinheim 2003.

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