Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
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In diesen Jahren bei uns schrieb sie nur einen Brief nach<br />
Hause und erhielt auch nur einen Brief von dort.<br />
Als Mutter nach der Hinrichtung meines Vaters am 20. Oktober<br />
1944 aus Berlin zu uns in die Dachwohnung zurückkehrte,<br />
habe sie das laufende Radio ausgeschaltet und uns gesagt,<br />
Vater sei gestorben � im Krankenhaus (Die Wahrheit sagte<br />
sie erst im Januar 1945, nachdem Freya ihren Söhnen mitgeteilt<br />
hatte, dass ihr Vater tot sei.)<br />
Wir Kinder hätten daraufhin geweint. Zu Vera habe Mutter gesagt,<br />
dass sie beide nun ein ähnliches Schicksal hätten: Vera<br />
habe keine Mutter und Mutter keinen Mann mehr. An Roland<br />
übergab Mutter zwei Dinge vom Vater, einen Füller und eine<br />
Uhr. Vera erinnert sich weiter, dass Roland irgendwann nach<br />
dem Attentat vom 20. Juli nicht mehr in die Kreisauer Schule<br />
gehen wollte, weil die Mitschüler aus dem Dorf uns als Kinder<br />
von Verrätern beschimpft hätten.<br />
Ostern 1945 mussten wir Kreisau mit dem Pferdewagen-<br />
Treck verlassen und Abschied von Vera nehmen. Nach so<br />
vielen Jahren erzählte uns Vera zu unserer Überraschung<br />
diesen Moment nun auf andere Weise als Mutter. Gewiss war<br />
beiden als Ursache für ihre jeweilige Erzählung die Angst vor<br />
den Russen gemeinsam, die alle Zwangsarbeiter, also die eigenen<br />
Landsleute, als Kollaborateure der Deutschen hart bestraften<br />
und in Zwangslager steckten. So oder so hätte Vera<br />
vermutlich das gleiche Schicksal ereilt.<br />
Vera war in Erinnerung geblieben, dass Mutter ihr riet, sich ihren<br />
Landsleuten anzuschließen, die auf dem Gut der Familie<br />
Moltke arbeiteten, und zu versuchen, mit ihnen in die Heimat<br />
zurückzukehren, statt mit uns zu gehen und mit großer Wahrscheinlichkeit<br />
von den Russen entdeckt und verschleppt zu<br />
werden. Für Vera und mich war dieser Abschied besonders<br />
schwer. Wir hätten beide geweint und ich hätte immer wieder<br />
verzweifelt gerufen: �Vera bleib hier, geh nicht weg !� Ich wollte<br />
sie nicht loslassen. Vor unserer Abfahrt hätte Vera für Mutter<br />
noch zwei Schreiben ins Russische und Polnische übersetzt,<br />
in denen Vaters Schicksal als Widerstandskämpfer beschrieben<br />
und mitgeteilt wurde, dass er von den Nazis umgebracht<br />
worden sei. Diese Schreiben sollten später von großem<br />
Nutzen für uns sein.<br />
Natürlich wollte ich nun von Vera auch endlich hören, wie die<br />
Geschichte mit dem Wlassow-Soldaten ausging, in den sie<br />
sich verliebt hatte, ob sie mit ihm gemeinsam nach Russland<br />
zurückkehren konnte, wie Mutter vermutet hatte. Aber auch<br />
diese Geschichte hatte Vera anders erlebt. Zwar habe sie sich<br />
tatsächlich in den Weißrussen Tonja (Anatolij) verliebt, aber er<br />
habe Kreisau bereits vor uns verlassen und sei erst danach<br />
zur Wlassow-Armee gegangen. Später sei es ihm jedoch gelungen,<br />
zur Roten Armee überzulaufen und somit zu überleben.<br />
Kennengelernt hatten sich die Beiden vor der Bäckerei<br />
im Dorf Kreisau. Er habe aus der Tür einen Eimer Wasser<br />
ausgegossen, als sie gerade vorbeikam, genau über ihre Füße.<br />
Zunächst sei sie wütend gewesen, er dagegen erfreut, einer<br />
Ukrainerin begegnet zu sein. Nach einigen Tagen trafen<br />
sie sich wieder und die Liebe nahm ihren Lauf.<br />
Schon bald nach unserer Abfahrt aus Kreisau sei sie, Vera,<br />
mit anderen Zwangsarbeitern in Richtung Osten losgelaufen,<br />
aber sie kamen nicht weit, weil sie von Deutschen aufgegriffen<br />
und in ein Lager verbracht wurden. Nach der Befreiung<br />
durch die Rote Armee Anfang Mai hätten die Insassen zunächst<br />
versucht, mit Pferden, Rädern und dergleichen in die<br />
Heimat aufzubrechen, seien aber von russischen Soldaten<br />
wieder aufgegriffen und nun in ein russisches Lager verbracht<br />
worden. Die etwa 40 russischen Gefangenen mussten zu Fuß<br />
ungefähr eine Woche bis zu dem �Filterlager� in der Nähe von<br />
9<br />
Nr. 4 / April 2004<br />
Oppeln (Oberschlesien) laufen. Dort wurden 20 männliche<br />
Gefangene ausgesondert und in die Armee eingezogen, so<br />
dass 20 Frauen übrig blieben. Im Lager hätten sie sehr lange<br />
für Essen anstehen müssen, sie habe in der Küche gearbeitet<br />
und dadurch Essen für ihre Kameradinnen organisieren können.<br />
Dort war sie vom 15.5. bis 7.6.1945 interniert.<br />
Schließlich wurden die gesunden Frauen in die Heimat geschickt.<br />
Die Kranken und Gebrechlichen ließ man zurück und<br />
da Vera im Lager an schwerem Rheuma in den Beinen erkrankt<br />
war, so dass sie kaum laufen konnte, hatte sie große<br />
Angst, bei der Selektion durch die russischen Ärzte zurückgelassen<br />
zu werden. Aber ihre Freundinnen bemühten sich um<br />
sie und halfen ihr beim Gehen. Sie wurde schließlich in den<br />
Güterwagen gebracht, wo sie während der Fahrt auf dem Boden<br />
lag. Die Reise dauerte etwa 4 Wochen und es gab �nichts<br />
zu essen und zu trinken.� Also fingen sie Regenwasser auf<br />
und bauten sich in den Waggons Stapelbetten aus Holz. <strong>Eine</strong><br />
Krankenschwester betreute Vera und gab ihr Medikamente.<br />
Als wir zu Pfingsten 1945 noch einmal nach Kreisau zurückkehrten,<br />
waren Vera und die anderen nicht mehr da.<br />
Heimkehr<br />
Im Juli 1945 war Vera endlich wieder zu Hause, aber sie<br />
musste erfahren, dass ihr Vater schon 1943 durch einen<br />
deutschen Bombenangriff ums Leben gekommen war. Um in<br />
Krivoi Rog eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, habe<br />
sie noch im russischen Lager eine Bescheinigung von einer<br />
Vorlage selbst abschreiben müssen und vom NKWD beglaubigt<br />
bekommen. Dieses Dokument konnte sie uns zeigen, da<br />
sie es noch immer besitzt !<br />
Tonja und Vera schrieben sich nach dem Krieg Briefe und er<br />
besuchte sie 1946 kurz in Krivoi Rog. Ein Jahr später schrieb<br />
er ihr, dass er eine andere Frau gefunden und geheiratet habe.<br />
Sie brach den Briefwechsel enttäuscht ab, lernte aber bald<br />
darauf ihren späteren Mann bei ihrer älteren Schwester kennen,<br />
den sie 1947 heiratete. Noch im selben Jahr starben ihre<br />
jüngere Schwester und aus Kummer darüber bald auch ihre<br />
Mutter.<br />
Vera musste seit dem Krieg für viele Jahre zweimal im Jahr,<br />
im Frühjahr und Herbst, ins Krankenhaus/Sanatorium gehen.<br />
Infolge ihres Rheumas litt sie auch unter einem Herzklappenfehler,<br />
den sie jedoch nicht operieren lassen wollte (aus Angst<br />
oder wegen der Kosten ?). Dennoch bekam sie drei Kinder,<br />
die beiden Söhne Viktor (Vitja) und Alexander (Saschka) sowie<br />
eine Tochter (Natascha). Vera geht es gesundheitlich<br />
heute insgesamt besser. Sie leidet aber unter ständigen Kopfschmerzen<br />
in der rechten Kopfhälfte, will deshalb aber auch<br />
nicht zum Arzt gehen (Aus Angst vor einer ungünstigen Diagnose<br />
?)<br />
Veras Mann starb 1997, kurz vor ihrem 50. Hochzeitstag infolge<br />
eines Unfalls. Er hatte sich auf dem Markt an einem Getreidesack<br />
dermaßen überhoben, dass eine Rippe brach, die<br />
sich in die Lunge bohrte. Er wollte aber nicht ins Krankenhaus,<br />
um sich dort behandeln zu lassen. Als er schließlich<br />
doch in die Klinik musste, wahrscheinlich zu spät, hat er sie<br />
wieder vorzeitig verlassen und ist bald darauf zu Hause gestorben.<br />
Veras Leben heute.<br />
Vera lebt mit ihren beiden Söhnen auf einem Grundstück mit<br />
zwei einfachen kleinen Häusern. Veras Tochter wohnt mit ihrem<br />
Mann Nikolaj in Jakutien (Sibirien), beide scheinen eine<br />
Krankheit zu haben - wir bekommen jedenfalls ein Foto zu