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Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

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zu existieren. (Der Staat Virginia auf der anderen Seite des<br />

nahen Potomac hat ein Abkommen mit der Bundesrepublik.<br />

Würden wir dort wohnen, wären unsere Führerscheine anerkannt<br />

worden.) Auch ein Konto wurde mit Hilfe der Schule eröffnet.<br />

An eine Kreditkarte, hier Zahlungsmittel Nr.1, war allerdings<br />

überhaupt nicht zu denken, denn wir hatten ja noch<br />

keine �credit history�, das Zauberwort, wie sich herausstellte.<br />

Das heißt, dass alle Zahlungen wie Miete und Rechnungen<br />

für die ersten anderthalb Jahre mit Schecks oder bar erfolgten.<br />

Überraschend war für uns auch, wie die Amerikaner mit Demokratie<br />

umgehen. Nach den missglückten letzten Präsidentschaftswahlen<br />

sagte man: "Es gibt Wichtigeres als über die<br />

Wahlen zu streiten, jetzt gilt es die größte Weltmacht zu regieren"<br />

und konzentrierte sich darauf, dass das Land regiert wird<br />

- wie auch immer. Oder man nahm es mit Humor. Ein Autoaufkleber<br />

bezog sich auf die nicht funktionierenden Auszählmaschinen:<br />

�Ich bin nicht Schuld, ich habe Gore gewählt �<br />

glaube ich.� In Deutschland hätte eine solche Wahl das Land<br />

wahrscheinlich lange Zeit gelähmt. Erst jetzt, nach vier Jahren<br />

Amtszeit von George W. Bush und ein Jahr nach dem Beginn<br />

des Irak-Krieges beginnt die Nation wieder ihre Regierung<br />

ernsthaft in Frage zu stellen und Kritik ist nicht gleich "unpatriotisch"<br />

oder Vaterlandsverrat. Die Herbstwahlen werden zeigen,<br />

ob der nächste Präsident der alte ist oder ob wieder ein<br />

demokratischer Präsident antritt.<br />

ZUR PERSON<br />

Thomas Lutz, DSW<br />

„Montag war <strong>Reichwein</strong> da. Nicht sehr wohl, aber guter<br />

Dinge ...“, schreibt Helmuth James v. Moltke am 3 Oktober<br />

1942 an seine Frau Freya nach Kreisau. „Seine Frau hat<br />

jetzt eine Ukrainerin bekommen und so hoffe ich, daß ihre<br />

schreckliche Überlastung ein wenig abnehmen wird. Bemerkenswert<br />

sei die unwahrscheinliche Reinlichkeit des nur<br />

15 Jahre alten Mädchens; so fasse sie keinen Kochtopf, kein<br />

Obst, kein Brot u.s.w. an, ohne sich vorher die Hände gewaschen<br />

zu haben...“<br />

Vera lebt !<br />

Vera, unser ehemaliges Kindermädchen, war mir nicht in Erinnerung<br />

geblieben, jahrelang<br />

blieb sie für uns verschollen,<br />

bis mein Bruder Roland<br />

sie mit Hilfe der Regionalgruppe<br />

Westfalen des<br />

<strong>Verein</strong>s �Gegen Vergessen -<br />

Für Demokratie�, sowie der<br />

�Ukrainischen Nationalstiftung<br />

für Verständigung und<br />

Aussöhnung� im Sommer<br />

2001 endlich aufspürte.<br />

Vera lebt, und sie antwortete<br />

uns schon bald mit einem<br />

langen Brief in ukrainischer<br />

Sprache, der überraschend<br />

detaillierte Erinnerungen an<br />

unsere gemeinsamen Jahre<br />

7<br />

Nr. 4 / April 2004<br />

und besonders an uns Kinder enthielt. Sie vermutete, dass<br />

Mutter nicht mehr am Leben sei und war um so glücklicher,<br />

noch vor Mutters Tod 2002 zwei Briefe mit ihr austauschen zu<br />

können. Schließlich bat sie uns vier Kinder, sie alle gemeinsam<br />

besuchen zu kommen.<br />

Endlich, im Oktober 2003, folgten Roland und ich ihrer Einladung,<br />

reisten in die Ukraine, nach Odessa und Kiew und für<br />

drei Tage zu ihr nach Krivoi Rog, an den Rand ihrer Heimatstadt.<br />

Aufgeregt und mit gespannter Erwartung sah ich der ersten<br />

Wiederbegegnung mit einer inzwischen alt gewordenen Vera,<br />

einer 77jährigen Frau entgegen.<br />

Zuerst blickte ich in ihre Augen und mich empfing ein offener,<br />

lebendiger und ruhiger Blick. Sie freute sich � nicht überschwänglich,<br />

sondern sie strahlte von innen und wirkte sicher<br />

und gelassen. Ich gewann sogleich Vertrauen zu ihr, und wir<br />

umarmten uns spontan.<br />

Wir blieben vom Donnerstagabend bis Sonntagmorgen bei ihr<br />

und genossen ihre menschliche Wärme. Auch Viktoria Nikolajewa,<br />

unsere Dolmetscherin, war von Vera und unserem Besuch<br />

so beeindruckt, dass sie dankbar dafür war, von unserem<br />

gemeinsamen Schicksal etwas zu erfahren, zum Teil mitzuerleben<br />

und bei unseren Verständigungsschwierigkeiten<br />

behilflich sein zu können. Viktoria hat uns während der ersten<br />

Station im �Haus der Kirche, St. Paul� in Odessa das hilfsbereite<br />

Bischofs-Ehepaar Ratz vermittelt.<br />

Viktoria verbrachte dann fast die gesamte Zeit mit uns und<br />

wurde selbstverständlich mit der gleichen Gastfreundschaft in<br />

Veras Familie aufgenommen wie wir. Sie brachte von sich aus<br />

Fragen ein, die auch für uns wichtig waren. Schließlich entstand<br />

unter uns mehr und mehr eine freundschaftliche Vertrautheit.<br />

Die Jahre mit Vera<br />

Begonnen hatte das Zusammenleben mit Vera im Herbst<br />

1942. Vater brachte sie vom Anhalter Bahnhof zu uns nach<br />

Hause. Sie war mit zahlreichen Frauen und Mädchen in Güterzügen<br />

als Zwangsarbeiterin aus der von Deutschen besetzten<br />

Ukraine nach Berlin verschleppt worden. Er wählte Vera<br />

Davidenko aus, weil sie auf ihn so kindlich und verängstigt<br />

wirkte. Sie war erst 15 Jahre alt und ein �nett aussehendes<br />

Mädchen� mit dicken, langen Zöpfen.<br />

Für Vera war der Anfang sehr schwer, obwohl � wie Vera sich<br />

erinnert - Vater sie mit den Worten �Vera hat keine Mutter<br />

mehr� fürsorglich in unsere Familie einführte. Mutter antwortete:<br />

�Jetzt habe ich ein fünftes Kind�.<br />

Vera weinte zunächst aus Heimweh fast ununterbrochen, und<br />

die Verständigung war sehr mühsam. Mutter versuchte sie mit<br />

dem russischen Mädchen, das wie sie bei Nachbarn in unserem<br />

Haus arbeitete, zusammenzubringen, damit sich beide<br />

gegenseitig trösten und gemeinsam den Weg zur nächsten<br />

griechisch-orthodoxen Kirche finden konnten. �Das einzige,<br />

was ihr in ihrem Kummer half, war unser jüngstes Kind ..., ich<br />

musste Sabine in ihrem Laufstall oder Bettchen oft alleine lassen,<br />

während ich beim Einkaufen und Anstehen die vierjährige<br />

Kathrin schon mitnehmen konnte. Da nahm sich Vera des<br />

Babys an und schloss es so in ihr Herz, dass sie für Sabine<br />

durchs Feuer gegangen wäre�, erzählte meine Mutter später<br />

(ich war 15 Monate alt, als sie zu uns kam). �Vera gehörte<br />

bald ganz zur Familie und wurde mehr und mehr zur unentbehrlichen<br />

Stütze.� Sie verbrachte �mit mir und den Kindern<br />

viele Bombennächte im Keller.�<br />

Als die Regierung 1943 anordnete, Mütter und Kinder sollten<br />

die Stadt verlassen, fuhr Mutter so früh wie möglich im Som-

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