24.01.2013 Aufrufe

Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Bauersfrau den Schwatz am Brunnen nicht mit langen<br />

Lastwegen erkaufen -, von den Fronten grüßen hohe, helle<br />

Fenster, wenn auch der heimliche Schummer unserer<br />

großväterlichen Stuben verloren geht � denn was dem<br />

Schweinestall recht ist, soll der menschlichen Behausung<br />

billig sein usw. Kurz, unser Dorf sei aufgeschlossen für das<br />

notwendige Neue � die Schule öffnet sich ihm zuerst! � und<br />

zugleich zäh verschworen den alten, wahren, bäuerlichen<br />

Werten, wie der Einfachheit in Wohnung und Gerät, der<br />

Schönheit, Einheit und bodenständigen Zweckmäßigkeit der<br />

urländlichen Holzkultur, dem gelassenen Leben im Rhythmus<br />

von Jahr und Tag � dem die Schule bewusst sich wieder<br />

hingibt als einem Unterpfand der gesunden Nation.�<br />

(<strong>Reichwein</strong> 1939, 215 f.). Gewiss, auch in den Tiefenseer<br />

Schulschriften ist von ländlicher Holzkultur und vom<br />

Rhythmus der Tages- und Jahresabläufe auf dem Land die<br />

Rede, aber eine derartige Verklärung des zeitgenössischen<br />

bäuerlichen Dorflebens findet man dort nicht. Andererseits<br />

werden die globale Horizonterweiterung der Tiefenseer<br />

Schulkinder, ihr werktätiger Nachvollzug von Kontinente<br />

umspannenden Luftverkehrsverbindungen, aber auch ihre<br />

Einsichten in die Wechselbeziehungen zwischen den<br />

ländlichen und städtischen Arbeitswelten in der modernen<br />

Gesellschaft mit keinem Wort erwähnt. Im Gegenteil: Die<br />

Eigenständigkeit bäuerlicher Dorfkultur wird gegen städtische<br />

Einflüsse wacker verteidigt. Kein Zweifel, <strong>Reichwein</strong> taktiert.<br />

Seine Bemühungen, die im NSLB immer noch virulenten<br />

agrarromantischen Tendenzen in seiner Darstellung zu<br />

berücksichtigen, sind zu übersehen. 4<br />

Von den politischen Befürchtungen und schwierigen<br />

Verhandlungen ihres Lehrers erfuhren die Tiefenseer<br />

Schulkinder nichts. Und doch spürten sie Verbindungen ihrer<br />

kooperativen Projektarbeit mit gesellschaftlichen Reformperspektiven.<br />

Ihre Bewusstseinsänderungen beschreibt<br />

<strong>Reichwein</strong> im abschließenden Kapitel von �Schaffendes<br />

Schulvolk� offen.<br />

3. �Schaffendes Schulvolk� und <strong>Reichwein</strong>s konkrete<br />

Utopie des �Schaffenden Volkes�<br />

Den Zusammenhang von Reformpädagogik und<br />

Gesellschaftsreform erlebten die Tiefenseer Schulkinder nach<br />

<strong>Reichwein</strong>s Bericht als Qualitätssteigerung ihrer<br />

Arbeitsbeziehungen im Gruppenprozess. Er beschreibt den<br />

Vorgang als Abfolge von drei Entwicklungsstufen in der<br />

Herausbildung der schulischen Werkgenossenschaft: �Nachbarschaft�,<br />

�Kameradschaft� und �die neue Gruppe�.<br />

Zum Verständnis der qualitativen Veränderungen in den<br />

Kooperationsbeziehungen verweist der Autor auf<br />

Entwicklungstrends der modernen Gesellschaft. Bereits<br />

entwickelt hätten sich im Modernisierungsprozess neue, nicht<br />

mehr allein durch Herkunft und Privileg, sondern durch<br />

�Leistung� erworbene Statusunterschiede. Sie ermöglichten<br />

eine �neue Unmittelbarkeit� in den zwischenmenschlichen<br />

Beziehungen, die auf wechselseitigem Respekt der durchaus<br />

ungleichen Kommunikationspartner beruhe.<br />

4 Link 1999, 311 übersieht die inhaltlichen Differenzen zwischen den<br />

genannten Texten und gelangt zu inkonsistenten Einschätzungen.<br />

19<br />

Nr. 4 / April 2004<br />

3.1. �Mitsorgende Nachbarschaft�. <strong>Reichwein</strong>s<br />

Auffassung von der Struktur der pädagogischen<br />

Sozialbeziehung<br />

Im Bereich der pädagogischen Sozialbeziehungen öffne die<br />

�neue Unmittelbarkeit� und �Nähe� dem �Erzieher� die<br />

Chance, das einzelne Kind als �Träger eines persönlichen,<br />

d.h. einmaligen Formwerts� überhaupt erst wahrzunehmen<br />

und dadurch zu erfahren, dass seine eigene �Nachbarschaft�<br />

zu jedem einzelnen der Kinder als eine �persönliche� gefordert<br />

sei:<br />

�Vor dieser Aufgabe stehend spüren wir, wie schwer es ist, sie<br />

immer wieder zu erfüllen. Und doch entbinden wir damit erst<br />

jenen Kraftstrom, der unsere Bemühungen, wenn überhaupt,<br />

zum Blühen bringt. Der Erzieher weiß es am Besten aus<br />

seiner Erfahrung mit den Sorgenkindern. Denn diese sind am<br />

stärksten der Nähe und des persönlichen Kraftstroms<br />

bedürftig. Es gehört zu dem feinsten und wichtigsten Können<br />

aller Erziehungskunst, den Grad dieses unmittelbaren<br />

Wechselspiels aufs gewissenhafteste zu bemessen. Jedem<br />

Kind soll er gemäß sein und sein einziger Maßstab ist dessen<br />

Bedürftigkeit.� In der �mitsorgenden Nachbarschaft�, fährt er<br />

konsequent fort, dürfe daher kein Kind der Gruppe<br />

vernachlässigt oder gar wegen �angeblich minderen<br />

Anspruchs� offen oder insgeheim ausgegrenzt werden. �Wert<br />

und Wirksamkeit jeder Erziehungsgemeinschaft ist untrüglich<br />

am Stande ihrer Sorgenkinder abzulesen, so schwer die<br />

Verwirklichung ohne Fördergruppen auf dem Lande auch sein<br />

mag.� (<strong>Reichwein</strong> 1993, 157).<br />

Das ist eine in verschiedener Hinsicht bemerkenswerte<br />

Aussage. Zu ihrem Verständnis empfiehlt es sich, <strong>Reichwein</strong>s<br />

Gedankengang noch einmal zu rekonstruieren. Wirkungen der<br />

�neuen Unmittelbarkeit� und �Nähe� des gesellschaftlichen<br />

Umgangs fördert <strong>Reichwein</strong> nicht nur im Lehrer-Schüler-<br />

Verhältnis, sondern im Beziehungsgefüge der Tiefenseer<br />

Arbeitsgruppen insgesamt. Jedes einzelne Kind sollte von<br />

allen anderen Gruppenmitgliedern der �Erziehungsgemeinschaft�<br />

nicht nur als mitarbeitendes Gruppenmitglied<br />

akzeptiert werden, sondern erhielt Hilfen in Formen, die es als<br />

Person respektierten. Dieses Beziehungsgefüge charakterisiert<br />

<strong>Reichwein</strong> als �mitsorgende Nachbarschaft�, in die auch<br />

der Lehrer einbezogen war.<br />

Als Gruppenmitglied steht er vor der sehr schwierigen<br />

Aufgabe, seine professionellen Zuwendungen zu den<br />

einzelnen Kindern als nachbarschaftlich-fürsorgliche zu<br />

realisieren, d.h. in jeder Unterrichtssituation ist er<br />

herausgefordert, die unterschiedlichen Schwierigkeiten,<br />

Bedürfnisse, Nöte und Hoffnungen der einzelnen Schülerinnen<br />

und Schüler wahrzunehmen und in seinem Handeln<br />

so zu berücksichtigen, dass die Eigenkräfte der einzelnen<br />

Kinder gestärkt werden.<br />

In der konkreten, durch wissenschaftliche Untersuchungen nie<br />

hinreichend erfassbaren Handlungssituation orientiert sich<br />

<strong>Reichwein</strong> an theoretisch geklärten pädagogischen Prinzipien<br />

und stützt sich auf gesicherte Erfahrungen.<br />

Der Göttinger Pädagoge Johann Friedrich Herbart hat zu<br />

Beginn des 19. Jahrhunderts für diese Handlungskompetenz<br />

des Erziehers, die sich zwischen Praxis und Theorie bewegt,<br />

den Begriff �Pädagogischer Takt� eingeführt. Er bewertet ihn<br />

als �das höchste Kleinod der pädagogischen Kunst� (Herbart<br />

1913, 116 ff.).<br />

<strong>Reichwein</strong>s Hallenser Kollegin Elisabeth Blochmann, die mit<br />

ihm zusammen 1933 aus dem Professorenamt entlassen<br />

wurde, hat nach ihrer Rückkehr aus dem englischen Exil die<br />

notorische Missachtung des �Pädagogischen Taktes� im<br />

deutschen Erziehungswesen kulturhistorisch begründet. In

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!