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Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

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Die spannende Frage auf einer der nächsten Sitzungen lautete<br />

sodann: Ist auch das erdkundliche Vorhaben �Die Erde aus<br />

der Vogel- und Fliegerperspektive� von gestalthafter Struktur?<br />

Welche Grundform prägt seine didaktische Morphologie? Sind<br />

Züge einer �metamorphischen� Gestaltung erkennbar?<br />

Die Frage nach den �goethischen� Merkmalen oder Wesenszügen<br />

hinsichtlich des Aufbaus (der Gestalt) und der Durchführungsform<br />

(der Methode) des Vorhabens war damit gestellt.<br />

2.1. Zur Bauform (Gestalt)<br />

Nicht Verzweigung, wie im Falle der Faltarbeiten, schien die<br />

Bauform dieses Vorhabens vorwiegend zu charakterisieren,<br />

sondern � mit goethischem Begriff gesagt ���Folge�: die Reihenfolge<br />

der nacheinander in mehreren Sequenzen behandelten<br />

erdkundlichen Phänomene.<br />

Wir wandten uns diesen Phänomenen und ihrer Anordnung zu<br />

und stellten fest, dass sie sich hinsichtlich ihrer Erscheinungsform<br />

einerseits in bestimmter Weise glichen, andererseits aber<br />

auch unterschieden, und dass sie zugleich ein Zusammenhang<br />

innerer Identität in stringenter Weise zu einer Reihe verband.<br />

(�Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der anderen<br />

und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz.�) 2<br />

Aufschlussreich für den Versuch, sich einer Antwort auf die<br />

Frage nach der prinzipiellen Verwandtschaft zwischen dem<br />

Gestaltbildungsprozess der Natur und dem des Lehrkünstlers<br />

anzunähern, waren folgende Formulierungen aus den morphologischen<br />

Schriften Goethes 3 , insbesondere zur �Metamorphose<br />

der Pflanzen�: 4<br />

�Es hat sich daher auch in dem wissenschaftlichen Menschen<br />

zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen<br />

als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren, greiflichen<br />

Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen<br />

des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung<br />

gewissermaßen zu beherrschen. Wie nah dieses wissenschaftliche<br />

Verlangen mit dem Kunst- und Nachahmungstriebe<br />

zusammenhänge, braucht wohl nicht umständlich ausgeführt<br />

zu werden.�<br />

�Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit;<br />

selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch<br />

eine Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen, die<br />

der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber<br />

doch gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können.�<br />

�Die regelmäßige Metamorphose können wir auch die fortschreitende<br />

nennen: denn sie ist es, welche sich von den ersten<br />

Samenblättern bis zur letzten Ausbildung der Frucht immer<br />

stufenweise wirksam bemerken lässt, und durch Umwandlung<br />

einer Gestalt in die andere, gleichsam auf einer geistigen Leiter,<br />

zu jenem Gipfel der Natur, der Fortpflanzung durch zwei<br />

Geschlechter, hinaufsteigt.�<br />

�In der sukzessiven Entwickelung eines Knotens aus dem andern,<br />

in der Bildung eines Blattes an jedem Knoten und eines<br />

Auges in dessen Nähe beruhet die erste, einfache, langsam<br />

fortschreitende Fortpflanzung der Vegetabilien.�<br />

�Dasselbe Organ, welches am Stengel als Blatt sich ausgedehnt<br />

und eine höchst mannigfaltige Gestalt angenommen hat,<br />

zieht sich nun im Kelche zusammen, dehnt sich im Blumenblatte<br />

wieder aus, zieht sich in den Geschlechtswerkzeugen<br />

zusammen, um sich als Frucht zum letzten Mal auszudehnen.�<br />

In der Spur dieser Sätze und zugleich in der Perspektive des<br />

intendierten Vergleichs scheint es angemessen, den Gestaltbildungsprozess<br />

in eine Formulierung zu fassen, die den Übergang<br />

vom botanischen Beispiel zum didaktischen Exempel<br />

- den Vollzug eines interpretativen Transformationsprozess also<br />

� vermittelt.<br />

24<br />

Nr. 4 / April 2004<br />

1. Das �Ganze und seine Teile�, dem wir uns hier in<br />

analogisierender Absicht zuwenden, ist nicht das Ergebnis<br />

einer elementhaft-synthetischen Zusammenfügung,<br />

sondern eines in Sequenzen untergliederten<br />

organisch-genetischen Prozesses.<br />

2. Die �Teilganzen� entwickeln sich auseinander im<br />

Wechsel kontrapunktischer Bewegungsimpulse<br />

��Ausdehnung�, �Zusammenziehung�) und mit der<br />

Tendenz zunehmender �Verfeinerung� (Vergeistigung)<br />

ihrer Organe.<br />

3. In dem durchgehenden Vorgang der �Umwandlung<br />

einer Gestalt in die andere� ist die �innere Identität der<br />

verschiedenen, nacheinander entwickelten Pflanzenteile,<br />

bei der größten Abweichung der äußern Gestalt�<br />

begründet.<br />

4. Der Gesamtprozess in seiner Genese und inneren<br />

Organisation ist Ausdruck eines vom Morphologen<br />

nur angedeuteten �Innern�. Der Naturphilosoph verwendet<br />

an anderer Stelle für die gemeinte metaphysische<br />

Potenz im Rückgang auf Aristoteles (nisus<br />

formativus) den Begriff des �Bildungstriebes.�<br />

War nicht auch hinsichtlich der Bauform des Vorhabens �die<br />

größte Abweichung der äußern Gestalt� bei gleichzeitiger �innerer<br />

Identität� der vom Lehrkünstler nacheinander in den Anschauungs-<br />

und Fragehorizont gehobenen erdkundlichen<br />

Phänomene zu konstatieren? �Gestaltwandel im Phänomenbereich�,<br />

wie wir formulierten, �nach einem durchgehenden verkehrs-<br />

und siedlungsgeographischen Sinnprinzip?� Gab es<br />

nicht auch im didaktischen Bereich die Verdichtung zu Knotenpunkten<br />

und � in der Diktion der Fröbelpädagogik gesagt �<br />

zu den �Aug- und Sprosspunkten� abzweigender Lernaktivitäten?<br />

Und lag nicht dem Aufbau des Unterrichts ebenfalls eine<br />

Tendenz zur �Verfeinerung� (Vergeistigung) insofern zugrunde,<br />

als dieser letztlich zum Verständnis der geographischen Phänomene<br />

in lebenskundlicher Perspektive � auf einem gesteigerten<br />

Abstraktions- bzw. Reflexionsniveau also � führte?<br />

Wir rekonstruierten abschließend noch einmal den Aufbau und<br />

Verlauf des Vorhabens im gedanklichen Schnittpunkt zwischen<br />

botanischer Morphologie und erdkundlicher Didaktik:<br />

- Anfang und Ende des Vorhabens verbindet ein durchgehender<br />

thematischer Zusammenhang, in dem die inhaltliche Identität<br />

der aufeinander folgenden bzw. der voneinander abzweigenden<br />

Sequenzen des Lehrens und Lernens begründet ist.<br />

- Ein Teilthema geht aus dem anderen hervor, überwiegend im<br />

Sinn einer unmittelbaren �Folge�; gelegentlich auch (Vergleich<br />

der Verkehrsnetze) der kontrapunktischen Komposition.<br />

- Der Vergleich der Verkehrsnetze auf der Grundlage des<br />

nochmaligen Reliefbaus ermöglicht � einem Knotenpunkt entsprechend<br />

� die einübende Festigung und abzweigende Fortführung<br />

des Gelernten.<br />

- Der Vergleich deutscher und afrikanischer Siedlungsformen<br />

ist darauf angelegt, die geographische Sicht der Phänomene in<br />

lebenskundlicher Perspektive zu transzendieren.<br />

Es sei am Ende des Vergleichs dahingestellt, wie weit im Einzelnen<br />

die strukturelle Symmetrie zwischen Natur und Lehrkunst,<br />

die wir am exemplarischen Fall des erdkundlichen Vorhabens<br />

herauszuarbeiten versuchten, in der Didaktik <strong>Reichwein</strong>s<br />

reicht. Es steht aber außer Frage, dass der Gestaltung<br />

und der Gestalt seiner Vorhaben die �Kategorien des Lebens�<br />

zugrunde liegen: �Das Ganze und seine Teile�, �Gestalt�,<br />

�Struktur�, �Form���Organismus�, �Entwicklung.� 5 Es sind � mit<br />

Goethe gesprochen ���lebendige Bildungen�. 6 Diese entfalten<br />

sich in einem Prozess wachstümlicher Ausdifferenzierung und<br />

Integration ihrer Teile. Lehrer und Lerner sind entweder als<br />

Kompositeur (Planer, Impulsgeber) oder als Mitspieler (Akteur

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