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Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

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Erlasse des Kultusministeriums stützten zunächst den von<br />

Kade und dem Peter Petersen-Schüler Johann Friedrich Dietz<br />

vorangetriebenen agrarromantischen Neuansatz. (Vgl. Kade<br />

1932 a,b; 1935; Dietz 1934; 1935; Oppermann 1933/ 34)<br />

Wenn daher Ernst Bargheer in seinen Verhandlungen mit<br />

<strong>Reichwein</strong> im Sommer 1933 die Taunusschule in Wörsdorf als<br />

Vorbild für die Aufbauarbeit in Tiefensee erwähnte, lag darin<br />

die Erwartung, dass der �vorläufig beurlaubte� Professor sich<br />

durch einen Beitrag in der Landschulreform bewähren würde,<br />

deren Entwicklungsrichtung bereits feststand.<br />

In Tiefensee war der neue Lehrer im Oktober 1933 demnach<br />

mit der Frage konfrontiert, welche Reformrichtung das<br />

begonnene Schulprojekt einschlagen sollte. Anders formuliert:<br />

er musste realistische Vorstellungen über die Zukunft der<br />

Schulkinder gewinnen, auf die sie sich in der Schule<br />

vorbereiten sollten.<br />

Bereits die soziologische Struktur des Straßendorfes schloss<br />

eine unbesehene Übernahme der Vorstellungswelt von<br />

Krieck, Kade und Dietz aus. Tiefensee war zwar ländlich<br />

geprägt, aber kein Bauerndorf. Es gab gleich neben der<br />

Schule ein größeres Gut, auch eine Försterei, wo einige<br />

Ortsbewohner Arbeit fanden. Überwiegend aber lebte die<br />

Bevölkerung vom Ausflugsverkehr aus der nahe gelegenen<br />

Großstadt. Dem entsprach die soziale Zusammensetzung der<br />

Schülerschaft. Während der Jahre 1933 bis 1939 besuchten<br />

die einklassige Schule pro Schuljahr etwa 40 Schulkinder.<br />

Von diesen stammten, wie <strong>Reichwein</strong> 1937 notiert, �20 aus<br />

Landarbeiterfamilien, die andere Hälfte verteilt sich auf<br />

Bahnarbeiter, Handwerker, und ganz wenige stammen aus<br />

anderen Schichten�. (Vgl. Amlung 1999, 313)<br />

2.2. <strong>Reichwein</strong>s pädagogische Reformperspektive<br />

Basierend auf gesellschaftlichen Tatsachen betont <strong>Reichwein</strong><br />

bereits in seinem Artikel: �Deutsche Landschule� in der<br />

Frankfurter Zeitung vom 21. Januar 1934 zwar die<br />

pädagogische Notwendigkeit, von der ländlichen Lebenswelt<br />

der Schulkinder auszugehen; er relativiert aber die modische<br />

Agrarromantik, indem er mit dem unverdächtigen Wilhelm<br />

Heinrich Riehl die Vielfalt und Unterschiedlichkeit dörflicher<br />

Siedlungsformen in Deutschland schildert. Vor diesem<br />

Hintergrund trifft seine Kritik die Kirchturmsenge der �neuen<br />

Richtung�: � Die Schule soll die Fenster der Dorfes aufreißen,<br />

im wörtlichen und im übertragenen Sinne, die Fenster zum<br />

Volk und zur Welt. Die Heimatgebundenheit der Landschule<br />

wird manchmal noch so mißverstanden, als ob die Welt<br />

jenseits der Feldmark oder jenseits der nächsten Kreisstadt<br />

mit Brettern zugenagelt sei. Die Schule muß wissen: das Land<br />

darf sich nicht abkapseln, darf nicht Museum werden, sondern<br />

muß sich mitten im ganzen großen Volk und mit ihm<br />

entwickeln. Nichts würde diese Jungen und Mädchen später,<br />

wenn sie Bauern, Handwerker und Hausfrauen sind, mehr<br />

schaden, als engstirniges Winkeltum. Der Landlehrer muß<br />

das Ohr am Herzen des ganzen Volkes haben; er muß es<br />

kennen in allen seinen Schichten. Die tiefste Schicht der<br />

Schule heißt �Volk�; in dieser Schicht heben �Stadt� und �Land�<br />

sich auf; an ihr haben alle Kinder teil.� (<strong>Reichwein</strong> 1934)<br />

<strong>Reichwein</strong>s Konzept einer weltoffenen Schulwerkstatt auf<br />

dem Lande findet hier bereits eine erste Begründung. Dass er<br />

aber die Richtungsentscheidung für das Projekt Tiefensee<br />

nicht unabhängig von seinen Analysen weltwirtschaftlicher<br />

und geopolitischer Entwicklungstrends getroffen hat, konnte<br />

schon am Geschichtsfries, dem �Laufenden Band der<br />

Geschichte�, nachgewiesen werden. Als Konstruktionsprinzip<br />

des Bandes, das die Kinder an der Wand ihres<br />

Klassenraumes befestigten, entdeckt man den �realsoziologischen�<br />

Ansatz wieder, den <strong>Reichwein</strong> in der Einleitung<br />

17<br />

Nr. 4 / April 2004<br />

seiner Untersuchung: �Die Rohstoffwirtschaft der Erde� 1928<br />

entwickelt hatte. Dort zog <strong>Reichwein</strong> zugleich Folgerungen<br />

aus seinen Untersuchungen für die künftige Entwicklung<br />

Deutschlands. Als rohstoffarmes Land, lautet sein Befund,<br />

stehe Deutschland in den weltwirtschaftlichen Prozessen an<br />

einem �Scheideweg�. Nur dann habe es eine Chance zur<br />

Übernahme einer weltpolitischen Rolle, wenn es sich dem<br />

neuen Trend zu neoimperialistischen Gewaltlösungen der<br />

Probleme widersetze und an ihrer Stelle �die Parole<br />

genossenschaftlicher Zusammenarbeit� verfolge (<strong>Reichwein</strong><br />

1928, VII-XI; vgl. Lingelbach 1997, 227).<br />

<strong>Reichwein</strong>s Vorstellungen über die gesellschaftliche<br />

Entwicklung in Deutschland wird bereits in seinen<br />

Bearbeitungen von Beiheften für Unterrichtsfilme erkennbar,<br />

die 1935 einsetzen. Unter dem Titel: �Handgedrucktes<br />

Bauernleinen� verbirgt sich eine historische Rekonstruktion<br />

handwerklicher Farbstoffgewinnungs- und Färbungsverfahren.<br />

Die Geschichte von Weiterentwick-lungen der Verarbeitungsformen<br />

zunächst des einheimischen Maisch über den<br />

importierten Indigo bis zu Färbungstechnologien mit<br />

künstlichen Farbstoffen in der modernen Farbenindustrie wird<br />

als wohltätiger Fortschritt aller Menschen beschrieben.<br />

Verdichtungen der Kooperationsbeziehungen zwischen der<br />

ländlichen und der städtischen Arbeitswelt, erfahren die<br />

Nutzer des Beiheftes, nicht deren Abkapselungen<br />

gegeneinander dienen dem Wohlergehen beider Bevölkerungsgruppen.<br />

Wenn <strong>Reichwein</strong> gleichwohl die werktätige<br />

Rekonstruktion tradierter Web- und Färbeverfahren in<br />

Tiefensee förderte, war das ein Ansatz ästhetischer<br />

Erziehung, durch den Maßstäbe für die Herstellung<br />

formschöner Gegenstände gewonnen werden sollten,<br />

keineswegs ein Kotau vor der offiziösen Revitalisierung<br />

traditioneller bäuerlicher Produktionsformen (vgl. Amlung<br />

2000, 127 ff.).<br />

Die 1936 erschienenen Beihefte für die Unterrichtsfilme:<br />

�Pulquebereitung in Mexiko�, �Sisalernte auf Yukatan�,<br />

�Maisernte in Mexiko�, �Kokosnußernte in Columbien� und das<br />

1938 produzierte Beiheft: �Deutsche Kamerun-Bananen�<br />

waren didaktisch der Förderung globaler Horizonterweiterung<br />

der Landkinder zugeordnet. Enge Beziehungen zwischen<br />

�Mexiko erwacht� (<strong>Reichwein</strong> 1930) und den Unterrichtshilfen<br />

für Lehrer von 1936 hat <strong>Reichwein</strong> durch Literaturhinweise<br />

hergestellt.<br />

Im Gegensatz zur gängigen pädagogischen Agrarromantik<br />

setzt <strong>Reichwein</strong>s Auffassung der Landschulreform<br />

offenkundig auf die Modernisierung der deutschen<br />

Gesellschaft. Der Ausbau der Verkehrsnetze verdichte die<br />

Beziehungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen<br />

und intensiviere, wie er im Beiheft zum<br />

Unterrichtsfilm �Verkehrsflugzeug im Flughafen Berlin� zeigt<br />

(<strong>Reichwein</strong> 1939), die internationalen Austauschbeziehungen.<br />

Nicht zufällig bezeichnet <strong>Reichwein</strong> daher seine Vision von<br />

der künftigen Bewährung des �Schaffenden Schulvolkes� mit<br />

dem auf die Arbeitswelt als ganze bezogenen Begriff<br />

�Schaffendes Volk�. Der Begriff weckte Erwartungen, dass<br />

Tugenden und Kompetenzen, wie sie die Kinder in den<br />

werkgenossenschaftlich strukturierten �Vorhaben� in<br />

Tiefensee erwarben, künftig in allen Berufstätigkeiten auf dem<br />

Land und in der Stadt nachgefragt würden. Mit der Forderung<br />

nach planvollen, �in sich aufgebauten Leistungsfolgen� und<br />

der ständigen Verifikation der Arbeit an der Funktionstüchtigkeit<br />

des �Werks� schufen diese Projekte nach<br />

<strong>Reichwein</strong>s Auffassung �Erfolgsfreude�, die im Kinde �Impulse<br />

zu weiterem Schaffen entbindet�. Die Weiterführung des<br />

Weges, hoffte der Tiefenseer Lehrer mit Berthold Otto, könnte

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