Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
mer mit Vera und uns Kindern in unser winziges und sehr einfaches<br />
Ferienhäuschen in Vitte auf der Insel Hiddensee. Vater<br />
blieb zurück, fuhr im August zur Beerdigung seiner Mutter<br />
nach Ober-Rosbach und stand nach seiner Rückkehr vor den<br />
Trümmern unseres Wohnhauses.<br />
Wir kehrten von Hiddensee nicht mehr nach Berlin zurück,<br />
sondern folgten - wenn auch erst im Oktober - der Einladung<br />
Helmuth James von Moltkes, zu ihm nach Kreisau zu ziehen.<br />
Schlesien war damals als �Luftschutzkeller� Deutschlands bekannt.<br />
Von nun an wohnten wir auf dem Gut in der Dachwohnung<br />
im vierten Stock des Schlosses und Vera mit uns. Wir<br />
verfügten über eine notdürftig eingerichtete Küche, in der es<br />
kein Wasser gab. Somit musste vor allem Vera nicht nur die<br />
Kohlen, sondern auch noch das Wasser die Treppen hinauf<br />
schleppen.<br />
Das Ende unseres gemeinsamen Lebensweges mit Vera kam<br />
jäh, mit dem Näherrücken der Russischen Armee um Ostern<br />
1945. Die Bombenangriffe auf das 7 Kilometer entfernte<br />
Schweidnitz im damaligen Schlesien waren bereits bis Kreisau<br />
zu sehen und zu hören.<br />
Mutter erzählte uns, dass wir die weinende Vera ungern zurückgelassen<br />
hätten. Sie habe aber unbedingt bei ihren<br />
Landsleuten und besonders bei den zahlreichen ukrainischen<br />
Mädchen bleiben wollen, die ebenfalls im Schloss untergebracht<br />
waren und im Kuhstall halfen. Außerdem sei sie in einen<br />
Soldaten der Wlassow-Truppen verliebt gewesen. Veras<br />
Erinnerungen an diesen Abschied sind � für uns überraschend<br />
� jedoch anders. Darüber werde ich später berichten.<br />
Vera erinnert sich<br />
Vera wurde 1942 als mittlere<br />
von drei Schwestern von der<br />
örtlichen ukrainischen Polizei<br />
im Auftrag der deutschen<br />
Besetzer in Krivoi Rog ausgewählt<br />
und nach Nazi-<br />
Deutschland verschleppt. Ihre<br />
jüngere Schwester war<br />
krank und zu jung, die ältere,<br />
schon verheiratet, mit einem<br />
Kind. Die Mutter versuchte<br />
noch, Veras Abtransport zu<br />
verhindern, indem sie ihr Öl<br />
in die Augen träufelte, damit<br />
die Augen gerötet würden<br />
und sie krank aussähe. Beim ersten Mal wirkte der Trick, bei<br />
der zweiten Abholaktion wagte es die Mutter nicht noch einmal,<br />
aus Angst, Vera könne dabei erblinden. So wurde sie<br />
aus ihrer Familie und ihrer Heimat gerissen und in das fremde,<br />
feindliche Land verschleppt.<br />
Meine Mutter, erzählte sie, sei nicht den Anordnungen gefolgt,<br />
wonach sie Vera als Zwangsarbeiterin auf dem Küchenboden<br />
hätte schlafen lassen sollen. Stattdessen habe Vera<br />
ein eigenes kleines Zimmer bekommen, wurde in allem mitversorgt<br />
und eingekleidet. Vera betreute vor allem uns Kinder<br />
und half Mutter im Haushalt. Roland erinnert sich: �Veras erste<br />
Aufgabe war das Putzen der Kinderschuhe. Als sie die vielen<br />
Schuhe sah, dachte sie, es müssten viele Kinder in der<br />
Wohnung sein, und das andere Mädchen hat ihr geraten,<br />
nicht dort zu bleiben, wo so viele Kinder waren. Aber als wir<br />
alle nacheinander durch die Tür schauten und �russisch, russisch�<br />
riefen und wieder wegliefen, hat sie erkannt, dass wir<br />
nur vier Kinder waren und war beruhigt und erleichtert�.<br />
Vera hatte zwei Stunden in der Woche frei, am Sonntag<br />
8<br />
Nr. 4 / April 2004<br />
Nachmittag, und diese Stunden verbrachte sie mit anderen ihr<br />
bekannten oder befreundeten russischen Mädchen. Einmal<br />
wagten sie sich mit der Straßenbahn weiter weg in die Stadt<br />
hinein. Da sie annahmen, die Straßenbahn würde nicht den<br />
gleichen Weg wieder zurückfahren, liefen sie an den Schienen<br />
entlang zurück. Weil sie sich dadurch etwas verspätete,<br />
wurde ihr von Mutter der Ausgang am folgenden Sonntag<br />
verboten, und als eine ihrer ukrainischen Freundinnen, die<br />
ebenfalls Vera hieß, in der Küche einmal unerlaubt von unserer<br />
Wurst aß, forderte Mutter Vera auf, den Kontakt zu dieser<br />
Freundin abzubrechen.<br />
Dennoch ist Vera der Meinung, Mutter sei gut und gerecht zu<br />
ihr gewesen, habe sie beschützt und wie eine Mutter für sie<br />
gesorgt, und sie habe alles richtig gemacht. Vera ist ihr offenbar<br />
noch immer für Vieles dankbar.<br />
Mutter ließ sie einmal von einem Fotografen portraitieren, ein<br />
schönes, strahlendes Bild, das sie mit zwei weiteren Fotografien,<br />
die Mutter von ihr mit uns Töchtern auf Hiddensee gemacht<br />
hatte, mit auf ihre lange und entbehrungsreiche Heimfahrt<br />
nahm. Später ließ Vera es von einem ukrainischen<br />
Künstler in Öl malen � es ist sehr gelungen.<br />
Über Vater kann Vera leider nur wenig sagen. Er sei selten zu<br />
Hause gewesen und habe Mutter und uns viel alleine gelassen.<br />
Auf die Frage meines Bruders, ob sich die Eltern auch<br />
mal gestritten hätten, antwortete sie verneinend. Vielleicht im<br />
Schlafzimmer � sie habe jedenfalls nichts davon mitbekommen<br />
-. Vater habe viele Anzüge und dazu passende Schuhe<br />
und auch Hüte besessen. In dieser Erzählung erscheint uns<br />
Vater erstmals in ganz anderem Licht.<br />
Einmal seien mehrere Männer zu Besuch gekommen. Sie hätten<br />
sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen und dort geredet<br />
und geraucht (Vater rauchte Pfeife, manchmal auch kalt, die<br />
Pfeife nur im Mund haltend). Vera brachte ihnen noch Getränke,<br />
aber sonst durfte keiner mehr in das Zimmer.<br />
Vater habe uns Kinder sehr geliebt und sich an den Wochenenden,<br />
wenn er da war, viel mit uns beschäftigt.<br />
Plötzlich sucht Vera etwas an meinen Händen und erzählt, sie<br />
habe mich einmal beim Bügeln mit dem Eisen an einer Hand<br />
verbrannt � es ist aber nichts mehr zu sehen.<br />
Im Winter 1942/43 musste Vera wegen einer Blinddarmentzündung<br />
ins Krankenhaus, um operiert zu werden. Deshalb<br />
konnte sie leider nicht mit uns in die Skiferien auf die Planurbaude<br />
ins Riesengebirge fahren. Während unseres darauffolgenden<br />
Sommeraufenthaltes im �Hexenhäuschen� auf Hiddensee<br />
schlief Vera mit uns Kindern im Zimmer unter dem<br />
Dach. Diese wenigen Monate auf der Insel waren für Vera<br />
vermutlich die schönsten und sorglosesten während der Zeit,<br />
in der sie mit uns lebte. Im Oktober wurden noch schnell der<br />
Sanddorn zu Saft (als Zitronenersatz reich an Vitamin C) und<br />
die Hagebutten zu Marmelade verarbeitet und in Kisten zu<br />
unseren Habseligkeiten gepackt, mit denen wir nach Kreisau<br />
aufbrachen. Vater hatte uns im Hexenhäuschen nur ein<br />
paarmal besucht und blieb in Berlin zurück.<br />
Während unseres Kreisau-Aufenthaltes hatte Vera wenige<br />
Begegnungen mit Freya und nur eine mit Helmuth James von<br />
Moltke. Mutter sei abends, nachdem wir im Bett waren, häufig<br />
zu Freya ins Berghaus hinaufgegangen, wo die Familie von<br />
Moltke wohnte, während Vera für uns immer erreichbar blieb.<br />
Sie habe auch selten Kontakt zu den übrigen Zwangsarbeitern<br />
auf dem Gut gehabt. Als Stadtkind mochte sie die Landarbeit<br />
auf den Feldern und in den Viehställen nicht. Offenbar<br />
gab es auch einen Statusunterschied zwischen den Zwangsarbeitern,<br />
die in Häusern arbeiteten, und denen, die in den<br />
Ställen und auf den Feldern arbeiten mussten. Vera zog es<br />
immer vor, in der Küche zu arbeiten, auch später in den La-