Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Wiederaufrüstung diente. Göring spricht das freimütig aus: der<br />
propagierte Flugzeugmodellbau in der Schule dient der<br />
Vorbereitung des Krieges gegen indirekt, im Falle der<br />
Sowjetunion direkt genannte Feinde. Insofern kann man die<br />
propagierte Innovation als politisch instrumentalisierten<br />
Werkunterricht kennzeichnen.<br />
Die Ausstellung betraf aber nur einen Bereich des vom NS-<br />
Regime mit großem Propagandaaufwand geforderten<br />
Werkunterrichts. Der andere war die von Rust durch mehrere<br />
Erlasse voran getriebene Aktion des �Winterhilfswerks�,<br />
Weihnachtsgeschenke für kinderreiche Familien von<br />
�erbgesunden� Arbeitslosen herzustellen. Die Organisation<br />
�Winterhilfswerk� war dem Propagandaministerium unterstellt.<br />
1934 ins Leben gerufen, waren ihre Aktivitäten darauf<br />
gerichtet, Irritationen in der Bevölkerung über die<br />
ausgebliebene Revolution durch Maßnahmen aufzufangen,<br />
die als �Sozialismus der Tat� ausgelegt werden konnten.<br />
Hierzu gehörte die Produktion von Spielzeug im<br />
Werkunterricht. In der Werkunterrichtskampagne kooperierten<br />
demnach unter der Federführung Rusts drei Ministerien: das<br />
Erziehungsministerium, das Propagandaministerium und das<br />
Luftfahrtministerium. Von Seiten der Partei waren HJ und<br />
NSLB beteiligt.<br />
Dem gewaltigen Propagandaaufwand entsprachen allerdings<br />
die Erfolge in den öffentlichen Schulen kaum. Hinweise auf<br />
den Stand des geforderten Werkunterrichts erhält man durch<br />
die fortlaufend geführten Tätigkeitsberichte der Gaureferenten<br />
des NSLB. Unsere Durchsicht der Berichte für die Jahre<br />
1936-1938, als <strong>Reichwein</strong> die Tiefenseer Schulschriften<br />
herausbrachte, ergab folgenden Befund:<br />
Das Ziel einer flächendeckenden Einführung des<br />
Werkunterrichts im öffentlichen Schulwesen war 1938 bei<br />
weitem noch nicht erreicht. Man befand sich vielmehr in den<br />
meisten Schulen noch in einem Anfangsstadium. Nennenswerte<br />
Ansätze einzelner Schulen blieben fast<br />
durchgängig auf die genannten Aufgabenfelder Spielzeugbau<br />
im Rahmen des Winterhilfswerks und Flugzeugmodellbau<br />
beschränkt. Thematische Ausweitungen der Werkunterrichtsaktivitäten<br />
hatten Seltenheitswert.<br />
Entsprechend notiert der Tätigkeitsbericht des Gausachbearbeiters<br />
im Gau Kurmark Brandenburg, dem <strong>Reichwein</strong><br />
angehörte, vom April 1936 bis März 1938 bereits als Erfolg,<br />
dass die Ortsgruppensachbearbeiter in verschiedenen<br />
Kreisen des Gaues die �werkunterrichtlich interessierten<br />
Lehrer zu Arbeitsgruppen zusammengefasst hatten�, das<br />
Interesse aber eindeutig sich auf den Flugzeugmodellbau<br />
konzentriere. �Doch blieben andere in ihrer Arbeit weit<br />
zurück�. (Bundesarchiv, NS 12, 847)<br />
Angesichts der eher desolaten Gesamtsituation darf man<br />
davon ausgehen, dass <strong>Reichwein</strong>s erfolgreiche, thematisch<br />
weitgespannte und methodisch elaborierte Werkerziehungspraxis<br />
von den Leitungsgremien der Werkunterrichtskampagne<br />
aufmerksam verfolgt wurde. In Tiefensee gab<br />
es ein Pfund, mit dem man wuchern konnte. Wie aber verhielt<br />
sich <strong>Reichwein</strong> in der ambivalenten Situation?<br />
<strong>Eine</strong>n ersten Hinweis auf die Position des Tiefenseer Lehrers<br />
zu den politischen Ambitionen des geforderten<br />
Werkunterrichts erhalten wir durch seine Antwort auf Görings<br />
Frage. Wie er es denn mache, Kinder von 6 � 14 Jahren<br />
gleichzeitig zu unterrichten? <strong>Reichwein</strong>s Erwiderung: �Das ist<br />
eine Kunst� akzentuiert die professionelle Autonomie des<br />
Pädagogen in den Handlungsbereichen der Lehrorganisation<br />
und Lehrmethode in einklassigen Landschulen. Der<br />
Werkunterricht in den altersheterogenen Gruppen, deren<br />
Produkte beide Minister bewunderten, verlangte eine<br />
Strukturierung des Lernweges, die durch individuelle<br />
14<br />
Nr. 4 / April 2004<br />
Aufgabenzuweisungen die jeweils altersgemäßen Lernantriebe<br />
und Lernvoraussetzungen der Kinder nicht nur<br />
berücksichtigte, sondern zum Einsatz in der Kooperative<br />
anregte. Und die derart individual-pädagogisch fundierten<br />
Lernfortschritte konnten nur gelingen, wenn der Lernweg<br />
zugleich als Erziehungsweg, in <strong>Reichwein</strong>s Formulierung, �als<br />
Weg der erziehenden Gemeinschaftsarbeit� ausgelegt wurde.<br />
Gesorgt werden musste nämlich dafür, dass die<br />
Schulanfänger im Übergang von zunächst spielerischen zu<br />
immer anspruchsvolleren Werkaufgaben allmählich jene<br />
�Werkgesinnung achtsamer Sachlichkeit� internalisierten, die<br />
die erfahrenen �Könner� und der Lehrer in der schulischen<br />
Kooperative vorlebten. In seiner Konzeption der<br />
methodischen Seite des Lehrerhandelns führt <strong>Reichwein</strong><br />
demnach Traditionen der zeitgenössischen Arbeitsschulbewegung<br />
weiter. Wie vor ihm Kerschensteiner,<br />
Kilpatrick und sein Jenenser Freund Otto Haase, von dem er<br />
den Begriff �Vorhaben� übernommen hatte, versucht<br />
<strong>Reichwein</strong> im �Anregungsraum� Schule die �Selbstkraft� der<br />
Kinder, die sie bereits in spielerischen Aktivitäten<br />
vorentwickelt hatten, durch Anreize sinnvoller Werkaufgaben<br />
planvoll weiter zu entwickeln. (Vgl. Lingelbach 2001) Der<br />
fundamentale Gegensatz zur Argumentation des politisch<br />
motivierten Werkunterrichts, wie ihn Rust und Göring<br />
propagierten, liegt auf der Hand. Während die genannten<br />
Reformpädagogen von Lernbedürfnissen einzelner Kinder<br />
ausgingen, die sich dann allerdings an gesellschaftlich<br />
notwendigen Aufgaben bewähren sollten, argumentierten die<br />
Politiker in der genau umgekehrten Richtung. Ihre<br />
Forderungen �an die Schule� werden aus politischen Zielen<br />
ungeachtet aller Lerninteressen von Kindern abgeleitet.<br />
1.3. Didaktische Meisterschaft<br />
Die inhaltlichen Unterschiede des politisch propagierten<br />
Unterrichts zu <strong>Reichwein</strong>s Werkziehungskonzeption sind<br />
damit aber noch nicht ausgedrückt. Greifbar werden sie erst,<br />
wenn wir den Blick auf ein anderes Handlungsproblem des<br />
Landschullehrers richten, dessen Bearbeitung er ebenfalls als<br />
eine professionelle �Kunst� beschreibt. Zeitlich und logisch<br />
gehe die Bearbeitung dieses Problems allen methodischen<br />
Fragen voraus, hat man mit einigem Recht behauptet. Denn<br />
vor allen Überlegungen über die Strukturierung des Lern- und<br />
Erziehungsweges müsse man wissen, was die einzelnen<br />
Kinder in der Schule und aus welchen Gründen lernen sollen.<br />
Aus der Fülle der Möglichkeiten, die für die Einzelnen präzis<br />
�richtige� Inhaltsauswahl zu treffen, argumentiert <strong>Reichwein</strong>,<br />
sei eine �Kunst�, die zur �Meisterschaft� gesteigert werden<br />
könne. In der zeitgenössischen schulpädagogischen<br />
Diskussion bezeichnete man diese Kunst inhaltlicher<br />
Auswahl- bzw. Reduktionsentscheidungen im Unterschied zur<br />
methodischen bereits, wie auch heute noch, als die<br />
didaktische Aufgabe des Lehrers. Schon allein der Zwang,<br />
sparsam mit der Zeit umzugehen, schreibt <strong>Reichwein</strong> in<br />
seinem Projektbericht �Schaffendes Schulvolk�, führe<br />
notwendig zu didaktischen Reduktionsentscheidungen: Die<br />
Auswahl �möglicher Fälle�, die zum Gegenstand von<br />
Werkvorhaben erhoben werden sollten, müsse im Blick auf<br />
das Gesamtcurriculum der Schule begründet werden: �Die<br />
Beschränkung ist meisterhaft, wenn sie kein Feld der<br />
gegenwärtig wichtigen Lebensbelange unbeachtet lässt und<br />
doch nicht überlastet, wenn sie jedes Feld mit einem<br />
wesentlichen Fall belegt.� (<strong>Reichwein</strong> 1993, 48)<br />
Unter den gegebenen Herrschaftsverhältnissen war die<br />
Ausdehnung des Autonomieanspruchs professioneller<br />
�Lehrkunst� auf die didaktische Ebene erstaunlich, auch wenn<br />
man die Erlaubnis von Versuchsschulen berücksichtigt, vom