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Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

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der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, führt sie<br />

aus, kennzeichnete der Begriff �Takt� eine Form der<br />

Geselligkeit, die dem jeweils Stärkeren eine gewisse<br />

�Schonung des Verletzlicheren� auferlegte. Diese Tradition<br />

eines respektvollen Umganges habe sich in den westlichen<br />

bürgerlichen Gesellschaften durchgesetzt und gehöre dort bis<br />

in die Gegenwart hinein zum guten Ton. Obwohl der<br />

entsprechende Begriff dort fehle, werde das taktvolle<br />

Verhalten in der englischen Gesellschaft weithin praktiziert.<br />

Das gelte besonders für pädagogische Beziehungen, in<br />

denen sich natürliche Kinderfreundlichkeit der Erwachsenen<br />

mit dem Respekt vor der Person des Heranwachsenden<br />

verbinde. In Deutschland dagegen konnte sich eine Tradition<br />

�geformter Sitten�, die �freundliche Rücksicht, Distance und<br />

respektvolle Schonung des anderen zur Selbstverständlichkeit<br />

des Umgangs� werden ließ, kaum entfalten. Ohne den<br />

gesellschaftlichen Rückhalt aber werde es im deutschen<br />

staatlichen Bildungswesen schwierig, den �Pädagogischen<br />

Takt� zu kultivieren (vgl. Blochmann 1951, 589 ff.).<br />

Dass diese Verhaltensform aber pädagogisches Handeln<br />

konstituiert, macht <strong>Reichwein</strong> am wohl bedachten Beispiel<br />

seiner Beziehungen zu �Sorgenkindern� klar. Jedem Kind soll<br />

der Grad der Förderhilfe gemäß sein und sein einziger<br />

Maßstab ist dessen �Bedürftigkeit�. Daher dürfe kein Kind der<br />

Gruppe vernachlässigt oder wegen �angeblich minderen<br />

Anspruchs� offen oder �insgeheim� ausgegrenzt werden.<br />

Zwei Jahre vor der �Kindereuthanasie� gelingt <strong>Reichwein</strong> mit<br />

diesen erfahrungsgesättigten Formulierungen eine<br />

Darstellung der normativen Struktur pädagogischen Handelns<br />

in der modernen Gesellschaft von zeitübergreifender Geltung.<br />

5<br />

3.2. �Kameradschaft�<br />

Vorangetrieben wird die Qualität der Nachbarschafteziehungen<br />

in der Tiefenseer Werkerzie-hung durch<br />

das Vorbild der �Fortgeschrittenen�. Wenn die Kinder<br />

beginnen, ihre Nachbarschaftsbeziehungen im Sinne<br />

konkreter Werkvorhaben bewusst zu intensivieren, werde eine<br />

neue Stufe in der Entwicklung der Kooperative erreicht, die<br />

<strong>Reichwein</strong> als �Kameradschaft� kennzeichnet. �Wie die<br />

Nachbarschaft als Lebensform, so wird die Kameradschaft<br />

von uns als Wirkform begriffen, die auf bestimmte Werke<br />

gerichtet ist. Kamerad ist man nicht von selbst, man kann es<br />

nur werden.� Die jugendliche Kameradschaft �ist die<br />

Übungsform für das spätere Werkschaffen des Volkes�<br />

(<strong>Reichwein</strong> 1993, 158). Entsprechend versteht <strong>Reichwein</strong> die<br />

Herausbildung kameradschaftlicher Beziehungen in der<br />

pädagogisch organisierten Werkarbeit, festgemacht an der<br />

�Ehrfurcht vor den Materialien�, an der �Freude am<br />

kooperativen Produktionsvorgang� und dem schließlich<br />

hergestellten und dokumentierten Produkt als die<br />

�grundlegende Leistung der Nachbarschaftsschule�: Sie ordne<br />

die Kräfte der Gruppe und füge sie funktionsgerecht<br />

zueinander, so dass �jeder Halt am anderen hat, Rat und<br />

Hilfe� (<strong>Reichwein</strong> 1993, 160).<br />

5 Beispiele einer derart klaren Position pädagogischer Eigenständigkeit<br />

findet man in Deutschland unter der NS-Herrschaft ganz selten.<br />

Herman Nohl selbst, dessen Auffassung vom �Pädagogischen Verhältnis�<br />

Generationen von Reformpädagogen vor und nach 1945 inspirierte,<br />

hatte die von ihm entwickelte Autonomiethese in seinen Vorlesungen<br />

im Wintersemester 1933/34 und Wintersemester 1934/35:<br />

�Die Grundlagen der nationalen Erziehung� relativiert, in den Bereichen<br />

der Fürsorge und Heilpädagogik nahezu dementiert (vgl. Lingelbach<br />

1999; Klafki/ Brockmann 2002, 247 ff.).<br />

20<br />

3.3. Die �neue Gruppe<br />

Nr. 4 / April 2004<br />

�Aus der Kameradschaft in der Werkarbeit schließlich kann<br />

ein Gruppenbewusstsein der Werkgenossenschaft entstehen,<br />

das <strong>Reichwein</strong> als Selbstbewusstsein der �neuen Gruppe�<br />

kennzeichnet. Auf dieser Stufe erfahren die Schülerinnen und<br />

Schüler ihre Arbeitsbeziehungen bereits avantgardistisch als<br />

�vorgelebtes Volksleben�: �So wächst über die Kameradschaft<br />

� die neue Gruppe. Das, was sie schafft, gewinnt tiefere<br />

Bedeutung, weil sie es als ein Stück vorgelebtes Volksleben<br />

erfährt.� Und vom Gesichtspunkt des Pädagogen aus<br />

beschreibt er den Prozess der Bewusstseinsbildung so:<br />

�Verstünden wir unsere Erziehungsgemeinschaft nur als<br />

Lebensgemeinschaft �, als ein Beieinander, das durch sich<br />

selbst schon schöpferisch sei, so verzichteten wir auf den<br />

eigentlichen Kern unserer Erziehung, durch die wir eine<br />

menschliche Form zustande bringen wollen, die in der<br />

Lebensgemeinschaft des Volks gebraucht wird: einen jungen<br />

Menschen also, der in sich das Modell des Volkes, so wie wir<br />

es schauen, vorausbildet� (<strong>Reichwein</strong> 1993, 160 f.).<br />

Zum Verständnis offenkundiger Diskrepanzen dieser<br />

Perspektive zur politischen Realität des �Dritten Reiches� legt<br />

<strong>Reichwein</strong> im Text eine Spur, die auf seine bereits in den 20er<br />

Jahren entwickelten Gesellschaftsvorstellungen zurückweist.<br />

�Wir haben miterlebt�, schreibt er 1937, den �geistigen<br />

Durchbruch der Genossenschaft, eines der ehrwürdigsten<br />

Worte der deutchen Sprache, das uns zum Sinnbild wurde.<br />

Wir sind Treuhänder dieses Bildes, das uns geistige<br />

Wirklichkeit ist, und sollen es zum wirklichen Volk gestalten.�<br />

(<strong>Reichwein</strong> 1993, 148 f.).<br />

Bereits 1924, in dem Aufsatz: �Die Gilde. Ein Weg zur Einheit<br />

von Bildung und Arbeit� (<strong>Reichwein</strong> 1978), hatte <strong>Reichwein</strong><br />

die Aufhebung des Widerspruchs zwischen dem<br />

Universalrecht jedes einzelnen auf �Allgemeine<br />

Menschenbildung� und den tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnissen<br />

in der modernen Arbeitswelt an die<br />

Durchsetzung genossenschaftlicher Betriebsstrukturen<br />

geknüpft. Mit der Umwandlung der Betriebsorganisation zur<br />

genossenschaftlichen Gilde, die Betriebsangehörige aller<br />

Funktionsgruppen, Arbeiter, Angestellte und Unternehmer, in<br />

der Verantwortung für das arbeitsteilig produzierte �Werk�<br />

vereinigte, hoffte er, könne das Bildungsprinzip in der<br />

modernen Wirtschaft realisiert werden. In <strong>Reichwein</strong>s<br />

Überlegungen zur gesellschaftlichen Perspektive des<br />

Schulmodells Tiefensee treffen wir diese konkrete Utopie<br />

kaum verschleiert wieder an.<br />

Aus naheliegenden Gründen verzichtet <strong>Reichwein</strong> dagegen,<br />

die Differenzen dieser Zukunftsvision zur Realität der<br />

Vorkriegsgesellschaft in Deutschland explizit zu erörtern.<br />

Unter den gegebenen Verhältnissen musste er sich darauf<br />

beschränken, den Tiefenseer Schulkindern gegenwärtig<br />

alternative Lebenserfahrungen im Rahmen der pädagogischen<br />

Provinz ihres Heimatortes zu vermitteln. Aber auf<br />

das wirkliche Leben, das ihnen in unmittelbarer Zukunft<br />

bevorstand, hatten sie sich in der Schule nicht vorbereitet. Es<br />

stellte sich vielmehr als die destruktive Realität des Krieges<br />

heraus. <strong>Reichwein</strong> hat unter der tragischen Konstellation<br />

sicher gelitten. Sie �um der Zukunft wegen� zu verändern,<br />

musste aber zunächst die �Schwelle� für einen politischen<br />

Neubeginn erkämpft werden.

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