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Eine Brücke ... - Adolf-Reichwein-Verein

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verständlich als Erzieher, der moderne Berufsbegriff war ihm<br />

fremd.<br />

Erziehung spielt freilich auch heute eine wichtige Rolle im Zusammenhang<br />

mit Schule. Gegenwärtig dürften zwei Vorstellungslinien<br />

von Erziehung im Alltagssprachgebrauch wie auch<br />

im wissenschaftlichen dominant sein. Zum einen spricht man<br />

vom �erziehenden Unterricht� und meint damit Aspekte des<br />

Unterrichts, die über die Unterrichtung hinausgehen, aber mit<br />

ihr eng verbunden sind. 33 Harald Ludwig etwa formuliert: �Erziehender<br />

Unterricht geht von der Unterschiedenheit und Einheit<br />

von Lehren und Erziehen aus.� 34 Zum andern diskutiert<br />

man über den Erziehungsauftrag der Schule, positiv oder negativ,<br />

35 und meint damit vor allem nicht-unterrichtliche Aspekte<br />

der schulischen Arbeit. 36<br />

<strong>Reichwein</strong>s Sprachgebrauch gibt die alte Sicht wieder: sein<br />

Unterricht ist Erziehung. 37 Es geht ihm nicht nur oder nicht<br />

primär um alle möglichen Nebenwirkungen von Unterricht,<br />

sondern um das Verhalten von Kindern, das durch Unterricht<br />

erreicht werden soll, um Erziehung als den Hauptzweck, den<br />

der Erziehende gegenüber dem Zögling verfolgt. Seine Schule<br />

ist �Stätte der Erziehung�. 38 Das unterscheidet sie von der<br />

traditionellen Schule, die sich per Unterricht definiert.<br />

Der Begriff Erziehung ist bei <strong>Reichwein</strong> � wie bei vielen aus<br />

der Jugendbewegung kommenden Menschen � offensichtlich<br />

für sein gesamtes pädagogisches und bildungspolitisches<br />

Denken bedeutsam. Im Lager Bodenrod geht es um die gemeinsame<br />

Erziehung von Arbeitern und Studenten zum wahrhaft<br />

politischen Denken. 39 Die Jenaer Volkshochschularbeit<br />

mit Jungarbeitern steht unter dem Ziel der Erziehung der<br />

Jungarbeiter zu selbstständigen Menschen. Mit der Unterstützung<br />

der Beckerschen Position in der Lehrerausbildung will<br />

<strong>Reichwein</strong> wesentlich die auf der Pädagogischen Akademie,<br />

nicht aber der intellektualistischen Universität mögliche Erziehung<br />

der künftigen Lehrpersonen erreichen. In der <strong>Reichwein</strong><br />

zugeschriebenen Kreisau-Denkschrift �Lehre und Erziehung in<br />

Schule und Hochschule� ist Erziehung der übergreifende Begriff<br />

für das Schulwesen; der Gymnasiallehrer soll sich seiner<br />

eigentlichen Aufgabe, der erzieherischen, bewusst werden. 40<br />

33 Vgl. a. Rudolf. W. Keck: Erziehen und Unterrichten als Beruf, in:<br />

Leo Roth (Anm. 27), S. 1099-1114; Dietrich Benner, Was heißt: Durch<br />

Unterricht erziehen?, in: ZfPäd 31/1985, H.4, S. 441ff.<br />

34 Vgl. Harald Ludwig, Erziehender Unterricht. Zur Unterschiedenheit<br />

und Einheit von Lehren und Erziehen, in: Katholische Bildung<br />

88/1987, H.12 (Dez.), S. 679-690; hier S. 688-690.<br />

35 z. B. Hermann Giesecke, Wozu ist die Schule da? Die neue Rolle<br />

von Eltern und Lehrern Stuttgart 1996.<br />

36 Vgl. a. Karl Christoph Lingelbach, <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>s Schulpädagogik,<br />

in: Jürgen Hüther (Hrsg), Vom Schauen zum Gestalten. <strong>Adolf</strong><br />

<strong>Reichwein</strong>s Medienpädagogik. München 2001, S. 45-78, hier S. 77: In<br />

Diskussion der <strong>Reichwein</strong>schen Schulpädagogik schreibt er von der<br />

�pädagogischen Fundierung durch erziehliche Effekte des Schullebens.�<br />

37 Anders sieht dies J. Oelkers; in �Schulreform und Schulkritik�<br />

(Würzburg 2000, S. 283) schreibt er, Erziehung sei etwas Hinzukommendes,<br />

Unterricht Ergänzendes oder Abwertendes.<br />

38 Schulvolk, S. 147 (�die Stätten unserer Erziehung, die wir Schulen<br />

nennen�). In der Kreisauer Denkschrift spricht <strong>Reichwein</strong> von der �inneren<br />

Einheit des Lehr- und Erziehungsgebäudes.� (S. 103).<br />

39 <strong>Reichwein</strong>, Arbeitsgemeinschaft im Taunus, in: APS, S. 5-8, hier<br />

S. 7: �Der Sinn unseres Tuns war gemeinsame Erziehung zum wahrhaft<br />

politischen Denken.�<br />

40 Kreisau, S. 108.<br />

32<br />

Nr. 4 / April 2004<br />

<strong>Reichwein</strong>s Auffassung von Erziehung scheint mir der Position<br />

Herbarts zu entsprechen: 41 � �Und ich gestehe gleich hier,<br />

keinen Begriff zu haben von Erziehung ohne Unterricht, so<br />

wie ich [...] keinen Unterricht anerkenne, der nicht erzieht.<br />

Welche Künste und Geschicklichkeit ein junger Mensch um<br />

des bloßen Vorteils willen von irgendeinem Lehrmeister lernen<br />

möge, ist dem Erzieher an sich ebenso gleichgültig, als<br />

welche Farbe er zum Kleide wähle. Aber wie sein Gedankenkreis<br />

sich bestimme, das ist dem Erzieher alles, denn aus<br />

Gedanken werden Empfindungen und daraus Grundsätze und<br />

Handlungsweisen [...]. Die Erziehung durch Unterricht betrachtet<br />

als Unterricht alles dasjenige, was irgend man dem<br />

Zögling zum Gegenstand der Betrachtung macht.� 42 Der Herbartsche<br />

Ausdruck 43 erziehender Unterricht gehört zu <strong>Reichwein</strong>s<br />

Sprachgebrauch. 44 Bei Herbart ist der Bezug zur Moral<br />

eindeutig, bei <strong>Reichwein</strong> geht es im einzelnen um das Arbeitsethos,<br />

das im Lernen der Erziehungsgemeinschaft aufgebaut<br />

wird, um die Selbstständigkeit des Menschen sowie<br />

um die Entwicklung von Sittlichkeit aus dem Gemeinschaftsleben.<br />

Das Erziehungskonzept <strong>Reichwein</strong>s liegt fest und steht im<br />

Gegensatz etwa zu den Überlegungen, die Oelkers für eine<br />

demokratische Erziehung skizziert; 45 dieser wirft bisherigen<br />

Erziehungstheorien vor, ihnen fehle dreierlei: �die Wahrnehmung<br />

der Vielfalt, der Sinn für historische Kontingenz und die<br />

Sensibilität gegenüber Brüchen und Abweichungen�. Für das<br />

�Schaffende Schulvolk� ist diese Kritik kaum zurückzuweisen.<br />

Ich will abschließend zu diesem Abschnitt einige prägende<br />

Merkmale des <strong>Reichwein</strong>schen Erziehungsbegriffes - Selbstkraft,<br />

Sitte und Sache - beleuchten.<br />

a) Ziel jeder Erziehung, so könnte man in Kenntnis von<br />

<strong>Reichwein</strong> Herbart zitieren, ist die moralische Mündigkeit des<br />

Menschen. Der jugendbewegte <strong>Reichwein</strong> streicht, wie H. P.<br />

Thun herausgefunden hat, 46 bei der Lektüre von L. Nelsons<br />

�Reformation der Gesinnung� (1917) das Zitat �Den Menschen<br />

frei zu machen, ist die höchste und einzige Aufgabe der Erziehung�<br />

47 an, er hebt damit eine pädagogische Leitidee in<br />

Übereinstimmung mit den Kerngedanken der Jugendbewegung<br />

wie seines zeitweiligen �Lehrers� Nelson hervor. In der<br />

Verteidigung der Pädagogischen Akademien schreibt <strong>Reichwein</strong><br />

1931, dass �ein Volk im Stadium entfalteter Volkswirtschaft<br />

und weit differenzierter Produktion nicht mehr autoritär<br />

regiert werden kann, sondern nur noch auf dem Grund autonomer<br />

Verantwortung jedes einzelnen zu führen ist.� 48 Im<br />

41 Lingelbach, Schulpädagogik (s. Anm. 31).<br />

42 J.F. Herbart, Systematische Pädagogik. 1. Ausgewählte Texte,<br />

Allgemeine Pädagogik 1806, Hrsg. v. D. Benner, Weinheim 1997, S.<br />

61f.<br />

43 Oelkers weist den Ausdruck dem 19. Jahrhundert im allgemeinen,<br />

nicht nur Herbart zu (Schulreform, Anm. 32, S. 283).<br />

44 Schulvolk S. 120, 127, Film S. 204, Film Anm. 204 (�<strong>Eine</strong> weiter<br />

ausholende Darstellung des erziehenden Unterrichts als Gemeinschaftsleistung<br />

des in �Vorhaben� planenden Erziehers und des<br />

selbsttätig im �Werk� beteiligten Kindes gibt meine Schrift �Schaffendes<br />

Schulvolk�), Film S. 234 (�Der Film als Organ des erziehenden<br />

Unterrichts�).<br />

45 J.Oelkers, Einführung in die Theorie der Erziehung, Weinheim<br />

2001, S. 263.<br />

46 <strong>Reichwein</strong>Forum 2, April 2003, S. 13.<br />

47 Leonard Nelson, Reformation der Gesinnung, Leipzig 1917, S.<br />

145.<br />

48 <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>, Ausgewählte Pädagogische Schriften, Paderborn<br />

1978, S. 82 (zitiert als APS).

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