kurzgeschichte - SpecFlash
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Regel 1: Das oberste Ziel des Sammlers ist<br />
das Wohl der Menschheit.<br />
»Du wirst mir die Glasspitze durchs Auge<br />
rammen, bis sie meinen Hirnstamm erreicht«,<br />
sagt sie. »Dort sammelt du meine Angst ein. Ist<br />
doch so, oder?«<br />
Ich lasse ihre Schulter los. Einen Augenblick lang<br />
glüht ihre Wärme noch auf meiner Handfläche.<br />
»Richtig. Ich nehme den Menschen die Angst…«,<br />
sage ich. »…damit sie ein besseres Leben haben.<br />
Das ist doch was Gutes.«<br />
»Was gutes? Die Menschen sterben zwei<br />
Stunden nachdem du ihnen die Glasspitze verabreicht<br />
hast«, sagt Isabel.<br />
»Das ist nicht wahr!«, schreie ich. »Ich mache<br />
die Menschen glücklich, nicht tot!«<br />
Schweiß brennt in meinen Augen. Aber ich wisch<br />
ihn nicht weg.<br />
»Wenn ein Mensch den Tod vor Augen hat…«,<br />
erklärt Isabel. »…blendet er alle anderen<br />
Gefühle aus. Er spürt nur noch Todesangst und<br />
die sammelst du mit dem Kästchen an deinem<br />
Gürtel ein. Und dann verwandelt das Kästchen<br />
die Angst in Strahlung.«<br />
»Warum sollte ich das tun?«, frage ich.<br />
»Jeder von uns besitzt ein Handy«, sagt Isabel.<br />
»Wir telefonieren. Surfen im Netz. Hören Musik.<br />
Und wann immer wir das tun kriegen wir etwas<br />
von deiner gesammelten Todesangst ab.«<br />
»Wozu?«, brülle ich. »Wem sollte das denn<br />
nützen?«<br />
»Denen von oben«, sagt Isabel. »Die brauchen<br />
die Angst um uns zu kontrollieren. Um uns zu<br />
lenken.«<br />
Ihre Worte treffen mich wie Faustschläge. Etwas<br />
in mir heult auf. Es ist wahr was sie sagt. Ich<br />
fühle es.<br />
»Ist dir nicht aufgefallen, dass die Nachrichten<br />
ständig über die Wirtschaftskrise berichten«,<br />
<strong>kurzgeschichte</strong><br />
sagt Isabel. Ȇber die Inflation. Die Arbeitslosigkeit.<br />
Über Amokläufe. Die jetzt praktisch überall<br />
passieren.«<br />
Ich zucke mit den Schultern.<br />
»Diese Meldungen aktivieren die Todesangst,<br />
die über unsere Handys reinkommen.«, sagt<br />
Isabel.<br />
Ich mustere sie. Isabel lächelt vorsichtig. Dieses<br />
Lächeln hat etwas Warmes. Vielleicht sehne ich<br />
mich schon eine ganze Zeit lang nach so etwas.<br />
»Was soll ich jetzt tun?«, flüstere ich.<br />
»Kämpfe mit uns gegen sie. Du kennst die<br />
meisten der Angstsammler. Weißt wie sie sich<br />
verhalten«, sagt Isabel. »Mit deinem Wissen<br />
könnten wir sie besiegen.«<br />
»Wären wir beide dann zusammen?«, frage ich.<br />
»Ja, das würde mir gefallen«, sagt Isabel. »Ich<br />
mag dich nämlich.«<br />
»Gut, dann tue ich es«, sage ich und lächle.<br />
Isabel lächelt zurück und wuchtet sich aus dem<br />
Sofa. In dem Moment ramme ich ihr die<br />
Glasspitze ins Auge. Es zischt, als sich die<br />
Glasspitze durch ihr Gehirn durcharbeitet. Isabel<br />
schreit. So wie sie alle schreien. Bald aber übertönt<br />
das Summen des Kästchens ihr Brüllen. Sie<br />
bricht zusammen und neunzig Minuten später<br />
hört sie auf zu atmen. Ich weiß nicht wie lange<br />
es dauern wird. Ich glaube nicht lange. Dann<br />
werde ich der von oben sein und die Menschen<br />
lenken.<br />
ENDE<br />
Peter Mair - Über das Brechen von Regeln<br />
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