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Seit dem Abzug der US-Truppen
von der syrisch-türkischen Grenze
und der militärischen Invasion
der Türkei in das autonome
Gebiet Rojava finden regelmäßig
Demonstrationen in Wien statt.
Ein Lokalaugenschein.
Von Nada El-Azar, Fotos: Soza Jan
„TÜRKISCHE ARMEE!
RAUS AUS ROJAVA!“
Es ist 16 Uhr, und vor der Wiener Staatsoper reihen
sich die Polizeiwägen. Die Vorbereitungen auf
die Demonstration laufen auf Hochtouren: Aus
einem Van werden Fahnen herausgeholt und an
die Demonstranten verteilt; der Lautsprecher, aus dem später
Musik dröhnen soll, an ein Stromaggregat angeschlossen.
„Heute ist anscheinend nicht so viel los. Liegt wohl am Wetter“,
sagt Hevrin zu mir. Es ist Mitte November, den frischen
acht Grad Celsius und dem Wind, der unter Schals und Jacken
kriecht, trotzen einige Dutzend Menschen. Sogar mit Nachwuchs
und Kinderwägen im Schlepptau. Seit dem Beginn der
türkischen Militäroffensive am 9. Oktober 2019 in Nordsyrien
geht Hevrin in Wien auf die Straße, wann sie nur kann. „Nachdem
Trump angekündigt hatte, seine Truppen aus Nordsyrien
abzuziehen, war mein erster Gedanke: Jetzt hat Erdogan
leichtes Spiel.“ Ihre Befürchtung trat kurz darauf auch ein. Die
Kurdin lebt als selbstständige Fotografin in Wien. Zu ihrer Winterjacke
trägt sie einen traditionellen Schal von ihrer Mutter.
„ES SIND BILDER WIE AUS DEM VIETNAMKRIEG.“
Nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die
türkische Militäroffensive in der Demokratischen Föderation
Nord- und Ostsyrien startete, brach für Hevrin eine Welt
zusammen. „Ich las die Nachrichten und dachte mir, mein
Gott, da geht es um mein Heimatdorf, meine Familie und alle
Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin.“ In der ersten
Woche verlor sie bei einem türkischen Luftangriff zwei ihrer
Cousins. „Was mich am wütendsten machte, waren die Fotos
der Kinder, deren Haut mit weißem Phosphor verätzt war. Chemische
Waffen! Es sind wie Bilder aus dem Vietnamkrieg“, so
die 27-Jährige.
Nun formieren sich die Demonstranten zu einem Menschenzug.
Alt und Jung, wie Groß und Klein sind dabei. Den
Kopf der Demonstration bildet der Van. Ein Mann gibt die Parolen
vor, mit denen wir von der Staatsoper über den Schwarzenbergplatz
marschieren werden. „Türkische Armee! Raus aus
Rojava!“ Je lauter, desto besser: Hevrin schlägt ihre Faust zum
Himmel empor und ruft mit den anderen Demonstranten so
laut sie kann. „Erdogan ist ein Mörder und Faschist!“
Der Widerstand der Kurden auf
Wiener Straßen
„HOCH DIE INTERNATIONALE SOLIDARITÄT!“
Nurcan Güleryüz ist Co-Vorsitzende des kurdischen Vereins
Feykom. Hauptsächlich leistet der Verein Integrationsarbeit in
Österreich, und seit vielen Wochen ist er auf den Demonstrationen
vertreten. Mindestens einmal wöchentlich, manchmal bis
zu drei Mal ziehen die Menschenzüge durch Wien. „Kurden aus
Rojava ertragen es nicht mitanzusehen, was mit ihren Familien
geschieht. Einige wurden aus ihren Dörfern vertrieben, andere
leisten noch Widerstand. Selbst bei dem Wort ‚Türke‘ wird
ihnen ganz anders.“ Immer wieder kam es zu Zwischenfällen
während der Demonstrationen. Ein junger, kurdischer Mann
habe bei einer Demonstration eine Türkei-Fahne mitgenommen,
um sie im Zuge der Demonstration anzuzünden. Doch die
Aktion ging nach hinten los erzählt Nurcan Güleryüz. „In dem
Moment, als er die Fahne herausholte, waren sofort andere
Jugendliche auf ihn losgegangen, weil sie dachten, er wäre
gegen sie“. Physische Angriffe auf die Demonstranten durch
Außenstehende wären Nurcan nicht bekannt gewesen. „Durchaus
aber verbale. Dinge wie ‚Wir sind in Rojava einmarschiert
und haben eure Mütter gefickt‘ und anderes, was man nicht
in den Mund nehmen sollte, sind schon gefallen.“ Trotz der
Waffenruhe soll die Türkei immer noch Angriffe in den Gebieten
unternehmen. Dschihadisten gehen auf Zivilisten los, und
hinterlassen eine Spur der Verwüstung. „Wie 2018 in Afrin.Und
zusätzlich leidet auch die Natur mit den Menschen! Sie haben
die ganzen Olivenbäume niedergebrannt. Historische Städte
werden dem Erdboden gleichgemacht. Für Menschen, die hier
in Mitteleuropa aufgewachsen sind, ist das unvorstellbar, ein
Irrsinn“, so Güleryüz.
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