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Biber Newcomer Dezember 2019

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Seit dem Abzug der US-Truppen

von der syrisch-türkischen Grenze

und der militärischen Invasion

der Türkei in das autonome

Gebiet Rojava finden regelmäßig

Demonstrationen in Wien statt.

Ein Lokalaugenschein.

Von Nada El-Azar, Fotos: Soza Jan

„TÜRKISCHE ARMEE!

RAUS AUS ROJAVA!“

Es ist 16 Uhr, und vor der Wiener Staatsoper reihen

sich die Polizeiwägen. Die Vorbereitungen auf

die Demonstration laufen auf Hochtouren: Aus

einem Van werden Fahnen herausgeholt und an

die Demonstranten verteilt; der Lautsprecher, aus dem später

Musik dröhnen soll, an ein Stromaggregat angeschlossen.

„Heute ist anscheinend nicht so viel los. Liegt wohl am Wetter“,

sagt Hevrin zu mir. Es ist Mitte November, den frischen

acht Grad Celsius und dem Wind, der unter Schals und Jacken

kriecht, trotzen einige Dutzend Menschen. Sogar mit Nachwuchs

und Kinderwägen im Schlepptau. Seit dem Beginn der

türkischen Militäroffensive am 9. Oktober 2019 in Nordsyrien

geht Hevrin in Wien auf die Straße, wann sie nur kann. „Nachdem

Trump angekündigt hatte, seine Truppen aus Nordsyrien

abzuziehen, war mein erster Gedanke: Jetzt hat Erdogan

leichtes Spiel.“ Ihre Befürchtung trat kurz darauf auch ein. Die

Kurdin lebt als selbstständige Fotografin in Wien. Zu ihrer Winterjacke

trägt sie einen traditionellen Schal von ihrer Mutter.

„ES SIND BILDER WIE AUS DEM VIETNAMKRIEG.“

Nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die

türkische Militäroffensive in der Demokratischen Föderation

Nord- und Ostsyrien startete, brach für Hevrin eine Welt

zusammen. „Ich las die Nachrichten und dachte mir, mein

Gott, da geht es um mein Heimatdorf, meine Familie und alle

Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin.“ In der ersten

Woche verlor sie bei einem türkischen Luftangriff zwei ihrer

Cousins. „Was mich am wütendsten machte, waren die Fotos

der Kinder, deren Haut mit weißem Phosphor verätzt war. Chemische

Waffen! Es sind wie Bilder aus dem Vietnamkrieg“, so

die 27-Jährige.

Nun formieren sich die Demonstranten zu einem Menschenzug.

Alt und Jung, wie Groß und Klein sind dabei. Den

Kopf der Demonstration bildet der Van. Ein Mann gibt die Parolen

vor, mit denen wir von der Staatsoper über den Schwarzenbergplatz

marschieren werden. „Türkische Armee! Raus aus

Rojava!“ Je lauter, desto besser: Hevrin schlägt ihre Faust zum

Himmel empor und ruft mit den anderen Demonstranten so

laut sie kann. „Erdogan ist ein Mörder und Faschist!“

Der Widerstand der Kurden auf

Wiener Straßen

„HOCH DIE INTERNATIONALE SOLIDARITÄT!“

Nurcan Güleryüz ist Co-Vorsitzende des kurdischen Vereins

Feykom. Hauptsächlich leistet der Verein Integrationsarbeit in

Österreich, und seit vielen Wochen ist er auf den Demonstrationen

vertreten. Mindestens einmal wöchentlich, manchmal bis

zu drei Mal ziehen die Menschenzüge durch Wien. „Kurden aus

Rojava ertragen es nicht mitanzusehen, was mit ihren Familien

geschieht. Einige wurden aus ihren Dörfern vertrieben, andere

leisten noch Widerstand. Selbst bei dem Wort ‚Türke‘ wird

ihnen ganz anders.“ Immer wieder kam es zu Zwischenfällen

während der Demonstrationen. Ein junger, kurdischer Mann

habe bei einer Demonstration eine Türkei-Fahne mitgenommen,

um sie im Zuge der Demonstration anzuzünden. Doch die

Aktion ging nach hinten los erzählt Nurcan Güleryüz. „In dem

Moment, als er die Fahne herausholte, waren sofort andere

Jugendliche auf ihn losgegangen, weil sie dachten, er wäre

gegen sie“. Physische Angriffe auf die Demonstranten durch

Außenstehende wären Nurcan nicht bekannt gewesen. „Durchaus

aber verbale. Dinge wie ‚Wir sind in Rojava einmarschiert

und haben eure Mütter gefickt‘ und anderes, was man nicht

in den Mund nehmen sollte, sind schon gefallen.“ Trotz der

Waffenruhe soll die Türkei immer noch Angriffe in den Gebieten

unternehmen. Dschihadisten gehen auf Zivilisten los, und

hinterlassen eine Spur der Verwüstung. „Wie 2018 in Afrin.Und

zusätzlich leidet auch die Natur mit den Menschen! Sie haben

die ganzen Olivenbäume niedergebrannt. Historische Städte

werden dem Erdboden gleichgemacht. Für Menschen, die hier

in Mitteleuropa aufgewachsen sind, ist das unvorstellbar, ein

Irrsinn“, so Güleryüz.

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