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Biber Newcomer Dezember 2019

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„Sie spenden,

wir senden!“

„Die Leiden des jungen Todors“

Von Todor Ovtcharov

Techno Lenin

Diesen Monat werden es 30 Jahre

seit dem Fall der Berliner Mauer. Ich

spreche darüber mit Jana aus der

slowakischen Stadt Kosice. Jana

ist 53, im November 1989 war sie 23. Wie viele

anderen auf der falschen Seite des Eisernen

Vorhangs hat sie geglaubt, dass sie für immer in

der sozialistischen Tschechoslowakei leben wird.

Heute gibt es die Tschechoslowakei gar nicht

mehr und Jana arbeitet als Altenpflegerin in Wien.

Damals, im Jahr 1989, war sie eine junge Sekretärin

bei der Polizei in Kosice, sie war sozusagen

im Vorhof der Macht. Heute fühlt sie sich wie

eine Dienerin des Kapitalismus. „Wenn man kurz

vergessen kann, dass wir alle hinter dieser Mauer

eingesperrt waren, haben wir eigentlich ganz gut

gelebt! Niemand hatte nichts und trotzdem haben

wir es irgendwie geschafft ohne Neid zwischen

uns. Und das Beste war, dass niemand arbeiten

musste und wir trotzdem Gehälter bekamen!

Eine wunderschöne Zeit!“ Jana beschreibt auch

ihr heutiges Leben: „Ich habe keine Freunde, ich

lache nie. Ich arbeite und arbeite weiter. Ich kann

aber nicht mehr zurück nach Kosice, das ist schon

lange nicht mehr meine Heimat. Ich bin überall

eine Ausländerin, sowohl hier, als auch dort.“ Ich

lade sie zu einer Technodemo ein, doch sie kann

nicht kommen, da sie arbeiten muss.

Ich gehe zur Technodemo mit meinem Freund

Walter aus Graz. Als die Mauer fiel, war Walter

gerade mal so wie ich drei Jahre alt. Diese Demo

ist eine riesige Technoparade, die durch Wien

zieht. Jede halbe Stunde erscheint im führenden

LKW der Technokolonne ein tätowierter und

überall gepiercter junger Mann, der die Raver zur

Revolution anstiftet. Man soll gegen die gesamte

Gesellschaftsordnung aufstehen: gegen die

aufsteigenden Mieten, die wir uns als Normalsterbliche

nicht mehr leisten können, gegen die

inhumane Politik der geschlossenen Grenzen,

gegen die Hetze auf Minderheiten, gegen soziale

Kälte. Die Gesellschaft sei „verfault“. Eine Revolution

muss her. Und genau vor dreißig Jahren zerfiel

ein Regime, das durch Revolution an die Macht

gekommen war. Ein Regime, das auch von Freiheit

und Gleichheit gesprochen hat. Nach seiner feurigen

Rede fordert der Techno Lenin die Demoteilnehmer

zum Tanzen auf. Das ist viel leichter als

eine Revolution. Köpfe und Bierdosen schaukeln

im Takt. Auf den Gehsteigen stehen hunderte von

Polizisten, doch diese Protestierenden sind nicht

gewaltbereit. Sie werden keine Autos anzünden

und keine Schaufenster zerschmettern. Um 22

Uhr endet die Demo, alle werden die U-Bahn

nehmen und nach Hause fahren. Dann werden sie

ruhig in ihren überteuerten Wohnungen einschlafen.

Sie werden all das sein, wogegen sie sind.

Das erinnert mich an einem Freund, der sich

ein Haus in Bulgarien gekauft hatte. Er hat sehr

linke Überzeugungen. Er kaufte ein altes und

runtergekommenes Haus und heuerte Arbeiter an

um es zu renovieren. Er war aber nicht zufrieden

mit den Konditionen unter welchen die Arbeiter

angestellt waren und forderte sie zum Streik auf.

Bis ihm einfiel, dass er ihr Arbeitgeber ist. Es war

aber schon zu spät. ●

19.–24.12.

Villach

120 Stunden live dabei

Hitradio Ö3 einschalten!

„Wo jeder

Wunsch-Hit

hilft!“

90 / MIT SCHARF /

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