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Biber Newcomer Dezember 2019

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„Du bist zu nah am Wasser gebaut“ bekommen Hochsensible

oft zu hören.

bel ist, weiß auch Julia. Die junge Frau mit

einem Abschluss in Medienmanagement

hatte es in ihrer Kindheit nicht leicht. „Meine

Mama wurde oft sehr laut. Weinen war in

meiner Familie ein absolutes No-Go. Ich

habe mich aber immer schon durch Weinen

ausgedrückt“, erinnert sie sich. Während

ihrer ganzen Kindheit und Jugend musste

sie sich Sprüche wie „Du bist zu nah am

Wasser gebaut.“ anhören. Dass sie überdurchschnittlich viel

weint, war ihr peinlich und hat dazu geführt, dass Julia sich

isoliert hat.

Primar Prof. Dr. Aigner ist Leiter der klinischen Abteilung

für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Klinikum

in Tulln und setzt sich speziell mit dem Zusammenhang

zwischen Hochsensibilität und psychischen Erkrankungen

auseinander. Aus seiner Arbeit geht hervor, dass Hochsensibilität

als Persönlichkeitseigenschaft ein Risikofaktor für

die Entwicklung psychischer Erkrankungen sein kann. Die

Gründerin des „hochsensitivnetzwerk von hsp für hsp“ Mag.

Sabine Knoll ergänzt dazu: „Hochsensible können natürlich

psychisch krank werden wie alle anderen. Wenn sie eine

glückliche Kindheit hatten, haben sie jedoch kein größeres

Risiko an Depressionen zu erkranken als Nicht-HSP. Bei einer

Die Menschenmengen,

laute

Musik – ich war

einfach überreizt.

schwierigen Kindheit, besteht allerdings schon ein höheres

Risiko für psychische Erkrankungen.“ Julia ist durch Zufall

mit Anfang 20 auf Hochsensibilität gestoßen und hat sich

endlich abgeholt gefühlt. „Ich habe endlich verstanden, was

mit mir los ist. Jeden Sonntag nach dem Fortgehen ging es

mir schlecht, ich habe viel geweint und brauchte lange, um

mich zu erholen. Die Menschenmengen, laute Musik - ich

war einfach überreizt“, schildert Julia ihre Erfahrungen.

Auch die Trennung von ihrem damaligen Freund konnte sie

elf Monate lang nicht verarbeiten. Das war der Punkt, an

dem sie wusste – es muss was passieren. Mit Hilfe eines

Therapeuten und Einlesens in die Hochsensibilität hat sie

ihre Routine geändert und ihr Leben an ihre Hochsensibilität

angepasst. „Ich lebe nach meinen Bedürfnissen und

habe emotionalen Abstand zu toxischen Leuten in meinem

Umfeld. Es sind aber auch simple Dinge wie dass ich regelmäßig

esse und hungrig keine Entscheidungen treffe“, lacht

die 28-Jährige.

„ES IST, ALS KÖNNTEST DU GEDANKEN

LESEN“

Für viele Nicht-Hochsensible sind Aussagen wie „Ich spüre,

dass es dir nicht gut geht“, ohne was gesagt zu haben, nur

schwer nachvollziehbar. Durch ihre große Reizoffenheit können

Hochsensible aber auch ihre erweiterte Wahrnehmung

nutzen und sind oft sehr intuitiv. „Es reicht schon, wenn ich

im Supermarkt bin und jemanden sehe, der grantig ist und

einen anderen der traurig ist. Ich komme raus, fühle mich

elend - als ob mich eine Gewitterwolke begleitet. Es ist, als

könntest du Gedanken lesen“, wundert sich Julia. Mit seinen

Gefühlen beim anderen zu sein und die Außenorientierung

sind sehr typisch für HSP. Das führt aber auch dazu, dass

HSP nie ganz bei sich sind und sich schnell

verloren fühlen. Das Gute an ihrer Intuition

ist laut Julia aber: „Du weißt immer, was auf

dich zukommt.“

Bei Freelance Visual Designerin Ronja

ist das sehr ähnlich. „HSP brauchen und

suchen die Gesellschaft anderer Menschen,

aber gleichzeitig brauchen sie sehr viel Zeit

für sich zum Regenerieren. Ich ziehe sehr

viel Energie aus Treffen mit anderen. Je

nachdem, wie er oder sie drauf ist, nimmt mich das positiv

oder negativ mit.“ Beraterin und Coach Iris Lasta sieht in

einem großen Schwanken zwischen dem Bedürfnis nach

Austausch und Zeit zum Alleinsein, dass der oder die HSP

mit sich selbst noch nicht gut im Kontakt ist.

IST (HOCH)SENSIBEL EIN

SCHIMPFWORT?

Schon von klein auf heißt es, dass wir und doch nicht so

anstellen sollen und stark für die böse Welt da draußen sein

müssen. Uns wird eingetrichtert, wir sollen wenig bis keine

Gefühle zeigen, damit wir erfolgreich werden. Das Arbeitsleben

ist hart. Viele haben gerade deshalb Angst, in unserer

Leistungsgesellschaft Schwäche zu zeigen. „Du Sensibelchen“

ist negativ behaftet und für viele immer noch ein stark

weibliches Thema. Eine kurze Google Bildersuche bestätigt

es: Gibt man sensible Haut ein, werden ausschließlich weibliche

Gesichter mit roten Flecken gezeigt. Als alternativer

Vorschlag wird „dünnhäutig“ geboten. Es zeigt sich erneut,

dass das gängige Narrativ über Sensibilität geändert werden

muss. Sensibilität in all ihren Formen wird im gängigen Diskurs

immer noch als ein starker Nachteil gesehen. Hochsensiblen

wird vorgeworfen, es nur als Vorwand zu nutzen und

Kritiker schieben es ins Esoterik-Eck zusammen mit Kaffeesatzlesen

und Wunderheilern.

Bei allen HSP, mit denen ich gesprochen habe, zieht

sich die unglaubliche Erleichterung durch, zu wissen, dass

sie nicht alleine sind. Die Tatsache, dass ihr hochsensibles

Wesen kein Defekt ist, sondern zu ihnen gehört wie ihre

braune Haarfarbe oder grüne Augen – ist für viele sehr wichtig

und schützt davor, sich zu isolieren.

IT’S A MAN SENSITIVE’S WORLD

„Ich habe den Eindruck, dass die heutige Arbeitswelt keinen

Platz für solche Emotionen lässt und das nicht einmal, wenn

du dich bei einer NGO bewirbst, die eigentlich mit sensiblen

Themen Tag für Tag zu tun hat“, klagt Ronja. Eine Forschungsarbeit

von Elaine N. Aron aus 2018 in Großbritannien

zeigt, dass unter Kindern und Jugendlichen bereits 20-35%

hochsensibel veranlagt sind. Die steigende Tendenz bedeutet,

dass sich Arbeitgeber*innen darauf einstellen müssen.

Mag. Sabine Knoll leitet den Lehrgang „Experte*in für HSP“

am WIFI Wien. Seit 2013 gibt es den Lehrgang und seit 2017

gibt es die Möglichkeit, die Module auch einzeln zu absolvieren.

Gedacht ist der Lehrgang für Menschen in beratenden

und begleitenden Positionen, wird aber auch von Privatpersonen

besucht, die mehr über sich oder ihr hochsensibles

Kind erfahren möchten. Ziel des Lehrganges ist es, Hochsensibilität

als Chance und Potential zu sehen und zu lernen, wie

einem Burnout vorgebeugt werden kann.

„Es braucht mehr Soft Skills und Spirit in der Wirtschaft.

Wir brauchen eine Veränderung. Die jüngere Generation lebt

das schon. Eine HSP kann ein großer Gewinn für eine Firma

sein, wenn sie am richtigen Platz fernab eines Großraumbüros

sitzt und möglichst keine Reizüberflutung erfährt“, erläutert

Knoll zum Thema der Vereinbarkeit von Hochsensibilität

und Berufsleben. Laut Knoll betrachten HSP eine Firma meist

wie ihre eigene und geben immer 100%.

„Sensibilität ist ein so feiner Wesenszug, der viel ermöglicht.

Es ist schade, wenn Menschen darunter leiden und

sich verstellen müssen, anstatt ihre Fähigkeiten zu genießen.

Besonders in sozialen und kreativen Berufen kann stark von

der Hochsensibilität profitiert werden.“ Obwohl wir uns in

der Kindheit noch an Rotkäppchen und den Wolf im Schafspelz

erinnern, ist der Grundtenor in unserer Gesellschaft

aber heute eher: Schaf im Wolfspelz – innen sanft und nach

außen aber hart. Das Innere nie nach außen kehren lautet die

Devise. Am besten wir entfernen uns komplett von Fabeln

und wenden uns der Realität zu und sind gleichzeitig sanft

und stark – Wolf und Schaf. ●

Am besten, wir sind gleichzeitig sanft und stark.

HOCHSENSIBILITÄT UND

PSYCHISCHE BEEINTRÄCHTIGUNGEN

Karin Novi ist Mitbegründerin des Vereins SAG

7 – Sensibel Achtsam Gefühlvoll. SAG7 hat es sich

zur Aufgabe gemacht, einen Austausch zwischen

Hochsensiblen zu schaffen und sich gegenseitig auch

zur Selbsthilfe zu ermutigen. In einem 12-Schritte-

Programm darf jede*r Teilnehmer*in in der anonymen

Gruppe teilen, was ihm/ihr guttut. Es ist eine Anlaufstelle

für Personen, die sich wegen ihrer Hochsensibilität

überfordert fühlen. Gemeinsam soll die Resilienz

erlernt werden und wie man sich abgrenzen kann.

„HSP haben eine intensive und detaillierte Wahrnehmung.

Sie nehmen alles auf wie ein Schwamm – egal

ob Gerüche, Geräusche oder Lichter. Das kann man

nicht abschalten“, fügt Karin Novi hinzu. Frau Novi

ist wegen eines tragischen Schicksalsschlages in die

Psychiatrie gekommen und hat 2014 dort bei einem

Vortrag das erste Mal von Hochsensibilität gehört.

Nachdem sie das erste Buch dazu gelesen hat, fühlte

es sich so an, als ob sie ihre eigene Biografie in den

Händen hält. „Erst dann konnte mein Genesungsprozess

beginnen. Zu wissen, dass ich zu einer Minderheit

gehöre, hat mir sehr geholfen. Meine ständige

Überreizung war die Ursache für meine psychische

Beeinträchtigung und mein Suchtverhalten“, so die

Vereinsgründerin aus dem Waldviertel.

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