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„Du bist zu nah am Wasser gebaut“ bekommen Hochsensible
oft zu hören.
bel ist, weiß auch Julia. Die junge Frau mit
einem Abschluss in Medienmanagement
hatte es in ihrer Kindheit nicht leicht. „Meine
Mama wurde oft sehr laut. Weinen war in
meiner Familie ein absolutes No-Go. Ich
habe mich aber immer schon durch Weinen
ausgedrückt“, erinnert sie sich. Während
ihrer ganzen Kindheit und Jugend musste
sie sich Sprüche wie „Du bist zu nah am
Wasser gebaut.“ anhören. Dass sie überdurchschnittlich viel
weint, war ihr peinlich und hat dazu geführt, dass Julia sich
isoliert hat.
Primar Prof. Dr. Aigner ist Leiter der klinischen Abteilung
für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Klinikum
in Tulln und setzt sich speziell mit dem Zusammenhang
zwischen Hochsensibilität und psychischen Erkrankungen
auseinander. Aus seiner Arbeit geht hervor, dass Hochsensibilität
als Persönlichkeitseigenschaft ein Risikofaktor für
die Entwicklung psychischer Erkrankungen sein kann. Die
Gründerin des „hochsensitivnetzwerk von hsp für hsp“ Mag.
Sabine Knoll ergänzt dazu: „Hochsensible können natürlich
psychisch krank werden wie alle anderen. Wenn sie eine
glückliche Kindheit hatten, haben sie jedoch kein größeres
Risiko an Depressionen zu erkranken als Nicht-HSP. Bei einer
„
Die Menschenmengen,
laute
Musik – ich war
einfach überreizt.
“
schwierigen Kindheit, besteht allerdings schon ein höheres
Risiko für psychische Erkrankungen.“ Julia ist durch Zufall
mit Anfang 20 auf Hochsensibilität gestoßen und hat sich
endlich abgeholt gefühlt. „Ich habe endlich verstanden, was
mit mir los ist. Jeden Sonntag nach dem Fortgehen ging es
mir schlecht, ich habe viel geweint und brauchte lange, um
mich zu erholen. Die Menschenmengen, laute Musik - ich
war einfach überreizt“, schildert Julia ihre Erfahrungen.
Auch die Trennung von ihrem damaligen Freund konnte sie
elf Monate lang nicht verarbeiten. Das war der Punkt, an
dem sie wusste – es muss was passieren. Mit Hilfe eines
Therapeuten und Einlesens in die Hochsensibilität hat sie
ihre Routine geändert und ihr Leben an ihre Hochsensibilität
angepasst. „Ich lebe nach meinen Bedürfnissen und
habe emotionalen Abstand zu toxischen Leuten in meinem
Umfeld. Es sind aber auch simple Dinge wie dass ich regelmäßig
esse und hungrig keine Entscheidungen treffe“, lacht
die 28-Jährige.
„ES IST, ALS KÖNNTEST DU GEDANKEN
LESEN“
Für viele Nicht-Hochsensible sind Aussagen wie „Ich spüre,
dass es dir nicht gut geht“, ohne was gesagt zu haben, nur
schwer nachvollziehbar. Durch ihre große Reizoffenheit können
Hochsensible aber auch ihre erweiterte Wahrnehmung
nutzen und sind oft sehr intuitiv. „Es reicht schon, wenn ich
im Supermarkt bin und jemanden sehe, der grantig ist und
einen anderen der traurig ist. Ich komme raus, fühle mich
elend - als ob mich eine Gewitterwolke begleitet. Es ist, als
könntest du Gedanken lesen“, wundert sich Julia. Mit seinen
Gefühlen beim anderen zu sein und die Außenorientierung
sind sehr typisch für HSP. Das führt aber auch dazu, dass
HSP nie ganz bei sich sind und sich schnell
verloren fühlen. Das Gute an ihrer Intuition
ist laut Julia aber: „Du weißt immer, was auf
dich zukommt.“
Bei Freelance Visual Designerin Ronja
ist das sehr ähnlich. „HSP brauchen und
suchen die Gesellschaft anderer Menschen,
aber gleichzeitig brauchen sie sehr viel Zeit
für sich zum Regenerieren. Ich ziehe sehr
viel Energie aus Treffen mit anderen. Je
nachdem, wie er oder sie drauf ist, nimmt mich das positiv
oder negativ mit.“ Beraterin und Coach Iris Lasta sieht in
einem großen Schwanken zwischen dem Bedürfnis nach
Austausch und Zeit zum Alleinsein, dass der oder die HSP
mit sich selbst noch nicht gut im Kontakt ist.
IST (HOCH)SENSIBEL EIN
SCHIMPFWORT?
Schon von klein auf heißt es, dass wir und doch nicht so
anstellen sollen und stark für die böse Welt da draußen sein
müssen. Uns wird eingetrichtert, wir sollen wenig bis keine
Gefühle zeigen, damit wir erfolgreich werden. Das Arbeitsleben
ist hart. Viele haben gerade deshalb Angst, in unserer
Leistungsgesellschaft Schwäche zu zeigen. „Du Sensibelchen“
ist negativ behaftet und für viele immer noch ein stark
weibliches Thema. Eine kurze Google Bildersuche bestätigt
es: Gibt man sensible Haut ein, werden ausschließlich weibliche
Gesichter mit roten Flecken gezeigt. Als alternativer
Vorschlag wird „dünnhäutig“ geboten. Es zeigt sich erneut,
dass das gängige Narrativ über Sensibilität geändert werden
muss. Sensibilität in all ihren Formen wird im gängigen Diskurs
immer noch als ein starker Nachteil gesehen. Hochsensiblen
wird vorgeworfen, es nur als Vorwand zu nutzen und
Kritiker schieben es ins Esoterik-Eck zusammen mit Kaffeesatzlesen
und Wunderheilern.
Bei allen HSP, mit denen ich gesprochen habe, zieht
sich die unglaubliche Erleichterung durch, zu wissen, dass
sie nicht alleine sind. Die Tatsache, dass ihr hochsensibles
Wesen kein Defekt ist, sondern zu ihnen gehört wie ihre
braune Haarfarbe oder grüne Augen – ist für viele sehr wichtig
und schützt davor, sich zu isolieren.
IT’S A MAN SENSITIVE’S WORLD
„Ich habe den Eindruck, dass die heutige Arbeitswelt keinen
Platz für solche Emotionen lässt und das nicht einmal, wenn
du dich bei einer NGO bewirbst, die eigentlich mit sensiblen
Themen Tag für Tag zu tun hat“, klagt Ronja. Eine Forschungsarbeit
von Elaine N. Aron aus 2018 in Großbritannien
zeigt, dass unter Kindern und Jugendlichen bereits 20-35%
hochsensibel veranlagt sind. Die steigende Tendenz bedeutet,
dass sich Arbeitgeber*innen darauf einstellen müssen.
Mag. Sabine Knoll leitet den Lehrgang „Experte*in für HSP“
am WIFI Wien. Seit 2013 gibt es den Lehrgang und seit 2017
gibt es die Möglichkeit, die Module auch einzeln zu absolvieren.
Gedacht ist der Lehrgang für Menschen in beratenden
und begleitenden Positionen, wird aber auch von Privatpersonen
besucht, die mehr über sich oder ihr hochsensibles
Kind erfahren möchten. Ziel des Lehrganges ist es, Hochsensibilität
als Chance und Potential zu sehen und zu lernen, wie
einem Burnout vorgebeugt werden kann.
„Es braucht mehr Soft Skills und Spirit in der Wirtschaft.
Wir brauchen eine Veränderung. Die jüngere Generation lebt
das schon. Eine HSP kann ein großer Gewinn für eine Firma
sein, wenn sie am richtigen Platz fernab eines Großraumbüros
sitzt und möglichst keine Reizüberflutung erfährt“, erläutert
Knoll zum Thema der Vereinbarkeit von Hochsensibilität
und Berufsleben. Laut Knoll betrachten HSP eine Firma meist
wie ihre eigene und geben immer 100%.
„Sensibilität ist ein so feiner Wesenszug, der viel ermöglicht.
Es ist schade, wenn Menschen darunter leiden und
sich verstellen müssen, anstatt ihre Fähigkeiten zu genießen.
Besonders in sozialen und kreativen Berufen kann stark von
der Hochsensibilität profitiert werden.“ Obwohl wir uns in
der Kindheit noch an Rotkäppchen und den Wolf im Schafspelz
erinnern, ist der Grundtenor in unserer Gesellschaft
aber heute eher: Schaf im Wolfspelz – innen sanft und nach
außen aber hart. Das Innere nie nach außen kehren lautet die
Devise. Am besten wir entfernen uns komplett von Fabeln
und wenden uns der Realität zu und sind gleichzeitig sanft
und stark – Wolf und Schaf. ●
Am besten, wir sind gleichzeitig sanft und stark.
HOCHSENSIBILITÄT UND
PSYCHISCHE BEEINTRÄCHTIGUNGEN
Karin Novi ist Mitbegründerin des Vereins SAG
7 – Sensibel Achtsam Gefühlvoll. SAG7 hat es sich
zur Aufgabe gemacht, einen Austausch zwischen
Hochsensiblen zu schaffen und sich gegenseitig auch
zur Selbsthilfe zu ermutigen. In einem 12-Schritte-
Programm darf jede*r Teilnehmer*in in der anonymen
Gruppe teilen, was ihm/ihr guttut. Es ist eine Anlaufstelle
für Personen, die sich wegen ihrer Hochsensibilität
überfordert fühlen. Gemeinsam soll die Resilienz
erlernt werden und wie man sich abgrenzen kann.
„HSP haben eine intensive und detaillierte Wahrnehmung.
Sie nehmen alles auf wie ein Schwamm – egal
ob Gerüche, Geräusche oder Lichter. Das kann man
nicht abschalten“, fügt Karin Novi hinzu. Frau Novi
ist wegen eines tragischen Schicksalsschlages in die
Psychiatrie gekommen und hat 2014 dort bei einem
Vortrag das erste Mal von Hochsensibilität gehört.
Nachdem sie das erste Buch dazu gelesen hat, fühlte
es sich so an, als ob sie ihre eigene Biografie in den
Händen hält. „Erst dann konnte mein Genesungsprozess
beginnen. Zu wissen, dass ich zu einer Minderheit
gehöre, hat mir sehr geholfen. Meine ständige
Überreizung war die Ursache für meine psychische
Beeinträchtigung und mein Suchtverhalten“, so die
Vereinsgründerin aus dem Waldviertel.
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