G E R M A N W I N G S N E W S Heike Schwandt gewann mit ihrer Geschichte den Germanwings Story Award Heike Schwandt, winner of the Germanwings Story Award Germanwings Story Award Die Gewinnerin des vierten Germanwings Story Awards ist Heike Schwandt. Ihre Geschichte „Ludmilla Grigorieva geht in die Luft“ wurde aus 500 Einsendungen ausgewählt. www.germanwings-story-award.de 144—GW
LUDMILLA GRIGORIEVA GEHT IN DIE LUFT Heike Schwandt erzählt von Ludmilla, die in ihrem russischen Dorf für Ihr Eingemachtes bekannt ist und sich nichts sehnlicher zum Geburtstag wünscht, als zu fl iegen Ludmilla Grigorieva Teil 1: war eine gestandene Frau, die in den bisherigen 69 Jahren ihres Lebens fünf Kinder großgezogen und zwei Männer beerdigt hatte. Genau genommen waren es sogar drei Männer, denn ihr ältester Sohn Valentin galt seit einem Feuergefecht in Afghanistan vor fast dreißig Jahren als verschollen. Aber da seine Leiche nie gefunden wurde, weigerte sich Ludmilla Grigorieva schlicht, seinen Tod anzuerkennen und gab auf alle Fragen seitens Verwandter oder Bekannter an, er sei ‚verreist‘. So waren es neben ihrer ebenfalls verwitweten Schwester Anna ihr jüngster Sohn Anatol und die drei Töchter Vera, Nadja und Svetlana, die an diesem Samstagabend um den mit einem buntbestickten Tuch bedeckten Tisch in dem verwitterten Holzhäuschen in der Mitte des Dorfes zusammensaßen, um Wichtiges zu besprechen. „In vier Wochen hat Mamitschka Geburtstag“, kam Nadja auf den Grund ihrer Zusammenkunft zu sprechen. „Es ist ihr siebzigster, wie ihr alle wisst. Und weil sie bei ihrem 50. krank war und kurz vor ihrem 60. Onkel Slava gestorben ist, sollten wir diesen Geburtstag richtig feiern. Mit einem großen Fest hier im Dorf, mit allen ihren Freunden und Nachbarn. Und wir sollten ihr auch etwas Schönes schenken. Etwas, was sie sich ganz besonders wünscht. Habt ihr eine Idee? Vielleicht einen Pelzmantel?“ „Bist du verrückt? So ein Mantel ist doch viel zu teuer. Und überhaupt: Wo sollte sie ihn denn tragen? Hier auf der Dorfstraße, die hundert Meter bis zum Lebensmittelladen oder was?“, empörte sich ihre Schwester Vera, die schon als Kind jede Kopeke erst dreimal umgedreht und dann in der Blechdose unter ihrem Bett versteckt hatte. „Ich weiß, was sie sich wünscht“, sagte Anatol leise und wartete ab, bis sich alle vier Köpfe ihm zugewandt hatten. „Sie möchte fl iegen. In der Luft. Sie hat im Fernsehen einen Bericht über einen Mann in Afrika gesehen, der mit seinem Flugzeug Touristen durch die Nationalparks fl iegt. Das hätte ihr so gut gefallen, sagt sie, wie die Leute über die Herden mit den Zebras und den Elefanten gefl ogen sind, dass sie das auch einmal machen will. Das hat sie mir gestern Abend erzählt.“ In dem fassungslosen Schweigen, das sich über die fünf Menschen rund um den Tisch und Preisverleihung im Marriott Hotel in Köln. Der erste Preis besteht unter anderem aus einer Buchveröff entlichung im Verlagshaus Monsenstein & Vannerdat Germanwings present the competition winner with a prize at the Marriott in Cologne die beiden Katzen auf dem Kachelofen legte, klang das Ticken des alten Weckers in der Schlafstube nebenan überlaut. Nadja war die erste, die sich nach dieser erschütternden Nachricht wieder fi ng. Sie räusperte sich. „Fliegen will sie? Von hier aus sind es drei Stunden bis in die Kreisstadt und der Bus fährt nur zweimal am Tag. Und von dort muss man mit der Bahn noch einmal vier Stunden in die Bezirksstadt fahren, wo der Flughafen ist. Und am Abend muss sie wieder zurück sein, weil die Kuh gemolken und die Hühner gefüttert werden müssen. Und Zebras und Löwen haben wir hier auch nicht!“ Sie schüttelte den Kopf: „Svetja, geh’ raus zu Mamitschka und rede mit ihr. So geht das nicht.“ Svetlana erhob sich seufzend und ging hinaus durch den Garten und das windschiefe Holztor zu der Bank vor dem Zaun, wo ihre Mutter mit ihren Nachbarinnen wie jeden Abend darauf wartete, dass die Tiere von der Weide zurück ins Dorf getrieben wurden und sie ihre Kuh zum Melken in den kleinen Stall hinter ihrem Haus führen konnte. Schon nach wenigen Minuten kam Svetlana niedergeschlagen zurück in die Wohnstube. „Nichts zu machen. Sie sagte, es sei ihre Sache, was sie sich wünsche. Und die alte Jakova, die Schreckschraube von nebenan, hat sofort losgegiftet und gesagt, wir sollten uns was schämen. Alles hätte unsere Mutter für uns getan, nie hätte sie an sich gedacht und wenn sie sich einmal was wünscht, dann wäre es für uns Kinder eine Pfl icht, ihr diesen Wunsch zu erfüllen.“ Beschämt ließen die Geschwister die Köpfe hängen. Obwohl sie eine zänkische, zahnlose Hexe war, die alte Jakova hatte recht. Auch an diesem Wochenende würden sie alle vier wieder beladen mit frischen Eiern, selbstgemachtem Quark und großen Gläsern aus dem schier unerschöpfl ichen Vorrat ihrer Mutter an Eingemachtem in ihr Leben fernab in der Stadt zurückkehren. Für ihre milchsauer mit frischem Dill und Honig eingelegten Gurken war ihre Mutter in der ganzen Region berühmt und es fanden sich mittlerweile so viele Abnehmer, dass Ludmilla Grigorieva sogar ein kleines Feld gepachtet hatte, um im Sommer genügend Gurkenpfl anzen anbauen zu können. Die nächsten beiden Wochen vergingen für die vier Geschwister in verzweifeltem Nachdenken darüber, wie sie Ludmillas Geburtstagswunsch würden erfüllen können. Denn den ersten Vorschlag, eine Reise mit dem Linienfl ieger von der Bezirksstadt nach Moskau und zurück, lehnte Ludmilla Grigorieva kategorisch ab. Erstens wolle sie mit einem kleinen Flugzeug fliegen, so einem, wie sie in dem Film über Afrika gesehen habe und zweitens: Was solle sie in Moskau? Sie war in ihrer Jugend mit einer Delegation der Landwirtschaftsschule schon einmal für eine Parade am Staatsfeiertag dort gewesen, und das reichte ihr. Der große Tag rückte näher und noch immer war keine Lösung in Sicht. Bis an einem Abend Anatol seine Schwestern anrief: „Ich hab’s. Warum sind wir nicht schon früher darauf gekommen? Erinnert ihr euch an das Spritzfl ugzeug, das wir einmal über den Obstplantagen im Süden gesehen haben? Ich habe mich erkundigt. Es gehört einem ehemaligen Militärfl ieger, der im Auftrag der großen Genossenschaften und der Forstverwaltung arbeitet. Den könnten wir doch mal fragen, ob Mamitschka mitfl iegen darf.“ „Ich kann dir genau sagen, was er antworten wird: Ich bin doch kein Luft-Taxi. Da müsst ihr euch beim Flughafen erkundigen, wer Rundfl üge anbietet“, bremste Nadja seine Euphorie. „Woher willst du das wissen, dass er keine Passagiere mitnimmt?“ „Weil ich schon selbst auf den Gedanken gekommen bin und bei Olga Scheperova in der Bezirksverwaltung nachgefragt habe, wo solche Einsätze genehmigt werden. Sie muss es wissen, und sie ist eine alte Schulfreundin von mir.“ „Ich bin doch kein Luft-Taxi. Da müssen Sie sich beim Flughafen nach einem Unternehmen erkundigen, das Rundflüge anbietet“, fertigte ihn der Mann am anderen Ende der Telefonleitung ab, als er Sergej Walunin, den Eigentümer und Piloten des Spritzflugzeugs, endlich ausfindig gemacht hatte. Aber Anatol ließ sich nicht so schnell beeindrucken. Schließlich hatte er von seiner Mutter gelernt, was Hartnäckigkeit ist. Fortsetzung folgt GW—145