Heft 1 1-64 - Anwaltsblatt
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AnwBl 1/2000 11<br />
Aufsätze l<br />
Die Schwäche der gesetzlichen Regelung liegt darin,<br />
dass sie den in Art. 38 GG festgelegten Wahlgrundsätzen<br />
nicht entspricht, nämlich sowohl der Grundsatz einer unmittelbaren<br />
Wahl noch der Grundsatz der Stimmengleichheit<br />
beachtet wird. Das ist zugleich der Grund dafür, weshalb<br />
die Bundesrechtsanwaltskammer kaum das Interesse<br />
der Anwaltschaft findet, obwohl sie sich als berufliche Vertretung<br />
aller Rechtsanwälte in der Bundesrepublik Deutschland<br />
versteht.<br />
c. Aufgaben der Satzungsversammlung<br />
Die Satzungsversammlung hat gemäß § 191a Abs. 2<br />
BRAO die (bisher einzige) Aufgabe, als Satzung eine Berufsordnung<br />
für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs<br />
unter Berücksichtigung der beruflichen Pflichten und nach<br />
Maßgabe des § 59b BRAO zu erlassen. Das ist keine einmalige<br />
Aufgabe, die mit dem Erlass einer Berufsordnung<br />
endet. Vielmehr ist die Satzungsversammlung ein auf Dauer<br />
bei der Bundesrechtsanwaltskammer eingerichtetes Gremium,<br />
dessen Mitglieder alle vier Jahre gewählt werden<br />
müssen (§ 191b Abs. 3 i. V. m § 68 Abs. 1 BRAO) und das<br />
legitimiert ist, die einmal erlassene Berufsordnung zu ändern,<br />
zu ergänzen oder in den von § 59b BRAO gezogenen<br />
Grenzen zu erweitern. Dabei ist unter Berufsordnung auch<br />
die Fachanwaltsordnung zu verstehen (§ 59b Abs. 2 Nr. 2a<br />
und b BRAO).<br />
III. Gestaltungsmöglichkeiten<br />
Der damit umschriebene Ist-Zustand drängt zu der Frage,<br />
ob die nach der Einrichtung einer Satzungsversammlung<br />
der Bundesrechtsanwaltskammer verbliebenen Aufgaben<br />
zwischen beiden Gremien anders verteilt werden<br />
sollten. Diese Frage erlaubt nur zwei Antworten.<br />
1. Die eine Antwort lautet, alles bleibt wie es ist. Diese<br />
Antwort wird auf den wenigsten Widerstand stoßen. Man<br />
kann den Verlust der Richtlinienkompetenz und die dadurch<br />
bedingte Schwächung der Bundesrechtsanwaltskammer beklagen<br />
und sich dennoch damit zufrieden geben, dass<br />
der Bundesrechtsanwaltskammer mit den in § 177 Abs. 2<br />
Nr. 2 -6 BRAO übertragenen Aufgaben ein beachtlicher Zuständigkeitsbereich<br />
verbleibt.<br />
2. Die andere Antwort könnte sein, die Zuständigkeit<br />
der Satzungsversammlung (Legislative) zu Lasten der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
(Exekutive) zu stärken. Für sie<br />
spricht, dass die Anwaltschaft in der Satzungsversammlung<br />
durch die von ihr gewählten Vertreter und damit viel besser<br />
als in der Bundesrechtsanwaltskammer als Verbandskörperschaft<br />
repräsentiert wird, in deren Hauptversammlung jede<br />
Rechtsanwaltskammer ohne Rücksicht auf die Zahl ihrer<br />
Mitglieder nur eine Stimme hat.<br />
IV.Wille der Anwaltschaft<br />
Eine sachgerechte Antwort können nicht die Selbstverwaltungskörperschaften<br />
der Anwaltschaft geben. Sie sind<br />
naturgemäß bestrebt, ihren Einflussbereich zu erhalten und<br />
nach Möglichkeit zu vergrößern. Die „richtige“ Antwort<br />
können vielmehr nur die Rechtsanwälte selbst geben. Sie<br />
müssen entscheiden, bei welcher Selbstverwaltungskörperschaft<br />
sie ihre Interessen am besten gewahrt sehen. Deshalb<br />
ist die entscheidende Frage, was die Anwaltschaft will.<br />
Diese Frage müsste durch eine Befragung aller Rechtsanwälte<br />
beantwortet werden. Bei der Interessenlosigkeit der<br />
Anwaltschaft, die sie den Problemen ihres Berufsstandes<br />
entgegenbringt, ist allerdings zu bezweifeln, ob eine Abstimmung<br />
in Kammerversammlungen ein repräsentatives<br />
Bild bringen würde. Die Kammerversammlungen werden<br />
durchweg nur von allenfalls 2% bis 5% aller Mitglieder<br />
besucht. Deshalb wäre es angezeigt, eine schriftliche Abstimmung<br />
durchzuführen.<br />
V. Eigene Meinung<br />
Wer die anwaltliche Selbstverwaltung über eine lange<br />
Zeit aufmerksam verfolgt, kann der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
nicht absprechen, in der anwaltlichen Selbstverwaltung<br />
unentbehrlich zu sein. Allerdings sollten die Aufgaben<br />
zwischen ihr und der Satzungsversammlung neu geregelt<br />
werden. Als öffentlich-rechtliche Verbandskörperschaft, die<br />
mittelbare Staatsgewalt ausübt, ist die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
der vollziehenden Gewalt zuzurechnen. Ihre Organisation<br />
und ihre Willensbildung müssen deshalb dem demokratischen<br />
Prinzip i. S. d. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG<br />
genügen8 . Selbstverwaltung in einem demokratischen Staat<br />
darf keine „Honoratiorenverwaltung“ sein9 . Deshalb dürfen<br />
der Bundesrechtsanwaltskammer keine freiheitsbeschränkenden<br />
Maßnahmen zu Lasten des einzelnen Rechtsanwalts<br />
obliegen. Andernfalls würde die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
mit einer auf der formaljuristischen Stimmengleichheit<br />
beruhenden Mehrheit, die der mehrheitlichen Auffassung<br />
der Rechtsanwälte nicht entspricht, in Grundrechte des einzelnen<br />
Rechtsanwalts eingreifen können. Solche Eingriffe<br />
sind in der Vergangenheit erfolgt. Das belegen – pars pro<br />
toto – die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts<br />
zum Versäumnisurteil10 und zum Zweitberuf11 . Deshalb sollten<br />
alle Aufgaben, die die Gesamtheit der Rechtsanwaltskammern<br />
und damit die Rechtsanwälte, soweit der Aufgabenbereich<br />
der Kammern reicht, berühren, der<br />
Satzungsversammlung übertragen werden. In ihr wird die<br />
Anwaltschaft durch geheim und unmittelbar gewählte Vertreter<br />
demokratisch vertreten. Die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
behielte dennoch ihre Existenzberechtigung. Sie hätte<br />
die Interessen ihrer Mitglieder, also der Rechtsanwaltskammern<br />
zu vertreten und in allen Fragen, die die Gesamtheit<br />
der Rechtsanwälte betreffen, die von der Satzungsversammlung<br />
gefassten Beschlüsse auszuführen. Die Erledigung aller<br />
in § 177 Abs. 2 Nr. 1, 3 und 4 BRAO der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
übertragenen Aufgaben würde nicht mehr von<br />
der Mehrheit der Rechtsanwaltskammern bestimmt, die sich<br />
gemäß § 190 Abs. 1 BRAO aus einer Abstimmung in der<br />
Hauptversammlung mit einer Stimme pro Rechtsanwaltskammer<br />
ergibt, sondern von der Mehrheit der von den<br />
Rechtsanwälten unmittelbar gewählten Vertreter. Für die<br />
Struktur der Selbstverwaltung der Anwaltschaft hätte das<br />
Folgende Konsequenzen:<br />
1. Die Bundesrechtsanwaltskammer hätte eine Doppelfunktion.<br />
Einerseits bliebe sie Verbandskörperschaft und damit<br />
Dachorganisation aller regionalen Rechtsanwaltskam-<br />
8 Kleine-Cosack, Berufsständische Autonomie und Grundgesetz, S. 191 ff.<br />
9 So zutreffend Pietzcker NJW 1987, 1308 (1310).<br />
10 BVerfG NJW 1993; 121; vgl. auch BGH NJW 1991, 42; Kleine-Cosack NJW<br />
1988, 172; ders. EWiR 1991, 57. Vgl. auch LG Stuttgart NJW 1994, 1884 und<br />
zum Ganzen grundlegend G. W. Hartung, Das anwaltliche Verbot des Versäumnisurteils,<br />
1991.<br />
11 BVerfGE 87, 287 = NJW 1993, 317; vgl. auch Kleine-Cosack ZIP 1991,<br />
1337; ders. EWiR 1991, 783; ders. NJW 1993, 1289; siehe ferner Fischer<br />
AnwBl 1992, 205.