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Armutsbericht 2006 - bei der Arbeitnehmerkammer Bremen

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›Ich denke, ich werde es schaffen‹<br />

Wäre Privatinsolvenz eine Möglichkeit,den Schuldenberg<br />

abzutragen? ›Nie wie<strong>der</strong>‹, antwortet<br />

Tanja Schwarz. Sie habe sich so geschämt,<br />

als sie den Offenbarungseid abgelegt hatte,<br />

habe sich so entmündigt gefühlt. Das will sie<br />

nicht noch einmal erleben. ›Lieber sterb ich.‹<br />

Inzwischen dreht sich das Hamsterrad<br />

wie<strong>der</strong>, aber Tanja Schwarz will dafür sorgen,<br />

dass es etwas langsamer geht. Mit ihrer<br />

Erkrankung hat sie den Schwerbehin<strong>der</strong>tenstatus,<br />

das gibt ein paar Privilegien im Pflegeheim.<br />

Sie putzt längst wie<strong>der</strong>, hat noch<br />

während <strong>der</strong> Chemotherapie wie<strong>der</strong> damit begonnen.<br />

Neulich haben Mutter und Tochter<br />

die Arztpraxis gemeinsam geputzt und da<strong>bei</strong><br />

›Bibi Blocksberg‹ gehört. ›Was haben wir<br />

gelacht‹, sagt Tanja Schwarz und funkelt ihre<br />

Tochter an. Ihre Krebserkrankung nennt sie<br />

›ein großes Geschenk. Es lässt einen wach<br />

werden und aufhorchen‹, und nur Mutter und<br />

Tochter werden wissen, wie groß die dunklen<br />

Momente hinter <strong>der</strong> Fassade sind. Jetzt geht<br />

es Tanja Schwarz gut, doch sie ist Risikopatientin<br />

– ›das werde ich auch immer bleiben.‹<br />

Aber, setzt sie nach und klingt sehr entschieden:<br />

›Ich denke, ich werde es schaffen.‹<br />

›Ich höre nicht auf,<br />

wütend zu werden‹:<br />

Bettina Fischer findet keine Ar<strong>bei</strong>t<br />

Bettina Fischer ist wütend. ›Mir bleibt im Grunde<br />

nur ein 400-Euro-Putzjob.‹ In einem Kiosk in<br />

<strong>der</strong> Nähe hätte man sie brauchen können. Aber<br />

die Ar<strong>bei</strong>t hätte morgens um halb sieben begonnen<br />

– ›wo soll ich da die Lüttsche lassen?‹<br />

Die ›Lüttsche‹ liegt auf dem Sofa und blinzelt<br />

unter blonden Strubbelhaaren. Andrea, Bettina<br />

Fischers fünfjährige Tochter, ist krank, nichts<br />

Schlimmes, Kin<strong>der</strong>bauchweh. Behutsam nimmt<br />

<strong>der</strong> Papa sie auf den Arm und trägt sie aus<br />

dem Wohnzimmer. Die Lüttsche ist die Jüngste<br />

von drei Töchtern – ›ich habe mir immer eine<br />

große Familie gewünscht‹, sagt Bettina Fischer,<br />

›aber jetzt sag ich zu meinen Töchtern: Wenn<br />

überhaupt, dann schafft euch höchstens ein Kind<br />

an.‹ Denn den Fischer-Neumanns fehlt Geld.<br />

Die Straße mit den hübschen rotverklinkerten<br />

Häusern sieht nach Zuhause aus, nach<br />

Familie, nicht nach fettem Wohlstand, aber<br />

nach solidem Dasein. So sieht es auch <strong>bei</strong><br />

Fischer-Neumanns in einem <strong>der</strong> Klinkerhäuschen<br />

aus. Es ist ein Status, den die <strong>bei</strong>den<br />

Eltern mit Mühe aufrechtzuerhalten versuchen.<br />

Und es bröckelt.<br />

Das Erbe ist aufgegessen<br />

Bettina Fischer ist gelernte Kin<strong>der</strong>krankenschwester,<br />

aber seit 16 Jahren raus aus ihrem<br />

Beruf – so alt ist auch ihre älteste Tochter.<br />

Sie und die mittlere, 11, hat Frau Fischer aus<br />

ihrer ersten Ehe, und daher hat sie auch das<br />

Häuschen in <strong>der</strong> netten Gegend, es wurde ihr<br />

nach <strong>der</strong> Scheidung zugesprochen. Mit ihrem<br />

zweiten Mann bekam sie noch ein Kind, Andrea.<br />

Mark Neumann ist Maler und Lackierer,<br />

nach einer Zeit <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit hat er jetzt<br />

wie<strong>der</strong> einen Job, bringt monatlich 1.500 bis<br />

1.600 Euro nach Hause. Das deckt gerade<br />

mal die Fixkosten: 600 Euro Abtrag fürs Haus,<br />

300 Euro für Energie, 700 Euro für Kita,<br />

Versicherungen, Telefon. Ein bisschen Geerbtes<br />

von Bettina Fischers Eltern stockte in<br />

den vergangenen Jahren auf, was fehlte. Das<br />

ist nun aufgebraucht. Weil Bettina Fischers<br />

Ex-Mann keine Ar<strong>bei</strong>t hat, zahlt er auch keinen<br />

Unterhalt. 600 Euro fehlen.<br />

Seither hat sich Bettina Fischer mit <strong>der</strong><br />

BAgIS angelegt, <strong>der</strong> Behörde, die in <strong>Bremen</strong><br />

für Ar<strong>bei</strong>tslosengeld II zuständig ist. Seither<br />

ist Bettina Fischer wütend. Sie schlägt mit <strong>der</strong><br />

Hand auf den dicken Leitz-Ordner vor sich:<br />

die gesammelte Behördenkorrespondenz. ›Man<br />

will ja nichts geschenkt‹, diesen Satz sagt sie<br />

öfter und sie sagt es deshalb, weil sie sich<br />

vom Amt behandeln lassen muss, als wolle<br />

sie etwas geschenkt – obwohl sie doch einen<br />

Rechtsanspruch einlöst. Zwischen 109 und<br />

356 Euro stehen Frau Fischer im Monat zu, je<br />

nachdem wie viel ihr Mann verdient. Die wechselnde<br />

Einkommenshöhe ihres Mannes, die<br />

monatlich verän<strong>der</strong>te Alg-II-Aufstockung nötig<br />

macht, überfor<strong>der</strong>t die Behörde. Da kann es<br />

vorkommen, dass auch wochenlang mal gar<br />

nichts kommt. Diesmal seit schon vier Monaten.<br />

Mal ist die Akte verschwunden, mal fehlt<br />

<strong>der</strong> Antrag. Auch wenn Frau Fischer nachweisen<br />

kann, alles ordnungsgemäß und pünktlich<br />

an die richtige Adresse geschickt zu haben –<br />

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