Armutsbericht 2006 - bei der Arbeitnehmerkammer Bremen
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96 Wenn die Träume aufhören<br />
aus. Und dann wartet man, bis <strong>der</strong> nächste<br />
kommt o<strong>der</strong> was passiert.‹ Wenn die Mitar<strong>bei</strong>ter<br />
aus dem Werk nach Hause gehen, ›sagt<br />
man tschüss, bis morgen, dann macht man<br />
seine Runde, macht das Licht aus, stellt die<br />
Maschinen ab, schließt Fenster und Türen.‹<br />
Dann wie<strong>der</strong> sitzen, warten. ›Sein Umfeld<br />
beobachten‹, sagt Schulz. Fernsehen ist<br />
nicht erlaubt, Lesen schon. Dann kommt die<br />
nächste Runde. ›Kaputt macht einen nicht<br />
die Ar<strong>bei</strong>t, das ist ja keine Ar<strong>bei</strong>t.‹, Thomas<br />
Schulz zündet sich noch eine Zigarette an.<br />
›Kaputt machen einen die vielen Stunden,<br />
die Zeit, die man aufbringen muss, konzentriert<br />
aufbringen muss für sein Umfeld.‹ Wie<br />
er das aushält? ›Ich glaub, man stumpft ab.‹<br />
Der Krankenstand in seinem Gewerbe sei<br />
außerordentlich hoch, erzählt <strong>der</strong> Wachmann.<br />
Nicht, weil die Kollegen so angestrengt ar<strong>bei</strong>ten,<br />
son<strong>der</strong>n weil sie mehr als an<strong>der</strong>e dem<br />
Wetter ausgesetzt sind: Raus, rein, nicht<br />
immer die Jacke über – beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> kalten<br />
Jahreszeit würden viele krank. Aber nicht<br />
je<strong>der</strong> bleibe dann zu Hause, weiß Schulz.<br />
Denn wer es sich öfter leistet mit Erkältung<br />
o<strong>der</strong> Grippe im Bett zu bleiben, dem werde<br />
unter vier Augen vom Chef schon mal erklärt:<br />
einmal noch und tschüss. Dann lieber mit<br />
Fieber zur Ar<strong>bei</strong>t. In einem Beruf, dessen<br />
Ansehen nicht sehr hoch ist, in Unternehmen,<br />
zu denen <strong>der</strong> Wachmann nicht wirklich gehört,<br />
son<strong>der</strong>n nur per Dienstleistungsvertrag<br />
ausgeliehen ist, mit einer Bezahlung, die<br />
vorne und hinten nicht reicht, ohne Zeit für<br />
sich und an<strong>der</strong>e, so dass viele Beziehungen<br />
zerbrechen – ›da brauch ich Ihnen nicht zu<br />
erzählen, wie hoch <strong>der</strong> Frust ist.‹<br />
Thomas Schulz fragt öfter mal Kollegen,<br />
die den Job neu anfangen: ›Hast du dir das<br />
gut überlegt?‹ Denn wenn man nicht schnell<br />
wie<strong>der</strong> den Absprung schafft, sagt Schulz,<br />
dann kommt man aus <strong>der</strong> Branche nicht mehr<br />
raus. Wenn man zu viele Jahre Wachmann<br />
bleibt, dann heißt es: Der ist schon zu lange<br />
Wachmann, <strong>der</strong> kann gar nicht mehr richtig<br />
ar<strong>bei</strong>ten. Die Angst vor Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit, <strong>der</strong><br />
Druck, die eigene Existenz zu verdienen, lässt<br />
ausharren. ›Ich bin hart im Nehmen‹, sagt<br />
Schulz und schiebt gleich hinterher, dass er<br />
all das ohne den Rückhalt seiner Familie nicht<br />
schaffen würde.<br />
Lange abzahlen für ein bisschen Urlaub<br />
Thomas Schulz hat keine abgeschlossene<br />
Berufsausbildung – nichts, was ihm vor knapp<br />
25 Jahren Besseres geboten hätte als die<br />
Sicherheitsbranche. Also fing er da an und<br />
blieb. Und er wird weiter bleiben. Dass ihn<br />
kein Frust umgibt, im Gegenteil, dass er<br />
Kraft ausstrahlt, Freude am Dasein und trotz<br />
aller Existenznöte auch Freiheit – das mag<br />
daran liegen, dass Schulz nicht klein <strong>bei</strong>gibt.<br />
›Aufrecht‹ wäre das passende Wort, würde<br />
<strong>der</strong> Zwei-Meter-Mann nicht alles abwehren,<br />
was ihm zu pathetisch daherkommt.<br />
Was ihm auch Kraft gibt: seine Wut.<br />
Thomas Schulz ist oft wütend. Über seine<br />
Kollegen, die sich einreden ließen, sie seien<br />
unabkömmlich o<strong>der</strong> gar verantwortlich für<br />
die ganze Sicherheit im Betrieb. ›Die Jungs<br />
glauben das auch noch, die fühlen sich am<br />
Bauch gekitzelt. Und wenn’s um ihre Rechte<br />
geht, darum, mal für bessere Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />
und mehr Lohn zu kämpfen – dann<br />
trauen sie sich nicht aus ihrer Wache raus.<br />
Von wegen: ich bin ja so wichtig.‹<br />
Wenn Thomas Schulz sich mal was leistet,<br />
was richtig Gutes, Luxus – was ist das? Der<br />
Mann schweigt lange, verzieht den Mund,<br />
scheint die Frage nicht zu mögen. Als vor ein<br />
paar Jahren irgendwann gar nichts mehr ging,<br />
mal richtig Urlaub nötig war, da ist Schulz<br />
zur Bank gegangen, hat Geld geliehen, um in<br />
die Sonne zu fliegen. An den Schulden hat<br />
er lange bezahlt. Überhaupt die Bank: ›Einmal<br />
im Jahr gehe ich dahin, lass mich blicken, um<br />
gut Wetter zu machen.‹ Um die roten Zahlen<br />
durch Präsenz, wennschon nicht mit Barem,<br />
dann doch mit Vertrauen auszugleichen.<br />
Das funktioniert. Muss es auch, und mehr<br />
geht nicht: ›Durch die Jahre bin ich ziemlich<br />
anspruchslos geworden. Mir hat nichts gefehlt.<br />
Wenn man nichts hat, dann wünscht man<br />
sich auch nichts. Man macht sich darüber<br />
gar keine Gedanken, weil man genau weiß,<br />
ich werde das nicht schaffen.‹ Thomas Schulz<br />
schaut hinaus, nimmt einen Schluck Kaffee.<br />
Und zündet sich noch eine Zigarette an.