Armutsbericht 2006 - bei der Arbeitnehmerkammer Bremen
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Im Folgenden geht es nicht um die Bezifferung<br />
von Armutsschwellen o<strong>der</strong> die Quantifizierung<br />
von Armutsquoten. Nicht ›Armut‹ im sozialwissenschaftlichen<br />
Sinne, son<strong>der</strong>n ›Hilfebedürftigkeit‹<br />
auf Basis des geltenden Rechts ist<br />
Bezugspunkt für die Analyse. Im Zentrum<br />
steht die Bestimmung des Bruttolohns, <strong>der</strong> –<br />
in Abhängigkeit von <strong>der</strong> Größe <strong>der</strong> Bedarfsgemeinschaft<br />
– erreicht werden muss, damit<br />
ein Anspruch auf ergänzende laufende SGB-II-<br />
Leistungen ausgeschlossen werden kann.<br />
Angesichts des Umstandes, dass in Deutschland<br />
ein Fünftel aller abhängig Beschäftigten<br />
für Niedriglöhne ar<strong>bei</strong>tet 5 , legen die ermittelten<br />
Bruttoschwellen den Schluss nahe, dass<br />
es unter <strong>der</strong> erwerbstätigen Bevölkerung eine<br />
nicht geringe Zahl von Haushalten gibt, die<br />
Anspruch auf ergänzende Leistungen des<br />
SGB II hätten, diesen Anspruch aber vor allem<br />
aus Unkenntnis nicht geltend machen (›Dunkelziffer<br />
<strong>der</strong> Hartz-IV-Berechtigung‹).<br />
Doch zunächst soll es um die Klärung eines<br />
an<strong>der</strong>en Punktes gehen. In vielen, meist vom<br />
neoliberalen Zeitgeist geprägten, medialen<br />
Kampagnen gegen die Grundsicherung für<br />
Ar<strong>bei</strong>tsuchende spielt die Frage des Abstands<br />
zu den Löhnen eine zentrale Rolle. Wie schon<br />
zu Zeiten <strong>der</strong> alten Sozialhilfe wird unterschwellig<br />
bis offen <strong>der</strong> Eindruck erweckt, Ar<strong>bei</strong>t<br />
lohne sich wegen einer zu hohen Grundsicherung<br />
nicht. Wer ar<strong>bei</strong>te habe weniger in <strong>der</strong><br />
Tasche als <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> nicht ar<strong>bei</strong>te. Nahrung<br />
erhalten <strong>der</strong>artige – eindeutig falsche –<br />
Darstellungen von maßgebenden Politikern,<br />
von denen zu erwarten wäre, dass sie die von<br />
ihnen initiierten und zu verantwortenden gesetzlichen<br />
Regelungen und <strong>der</strong>en materiellen<br />
Inhalt kennen. ›Wir wollen, dass nur diejenigen<br />
Hartz IV bekommen, die wirklich bedürftig<br />
sind. (...) Ich weiß genau, dass viele Taxifahrer,<br />
Wachleute und Friseurinnen weniger verdienen,<br />
als ihnen <strong>bei</strong> Hartz IV zustehen würde.<br />
Das kann nicht Sinn <strong>der</strong> Sache sein. Es muss<br />
klar geregelt werden, dass jemand, <strong>der</strong> ar<strong>bei</strong>tet,<br />
mehr im Portemonnaie hat als <strong>der</strong>jenige,<br />
<strong>der</strong> nicht ar<strong>bei</strong>tet‹ –proklamiert etwa <strong>der</strong> SPD-<br />
Fraktionsvorsitzende Peter Struck 6 . Und die<br />
Kanzlerin wird mit den Worten: ›Wer ar<strong>bei</strong>tet,<br />
muss mehr haben als wenn er nicht ar<strong>bei</strong>tet<br />
... Wo das nicht mehr gewährleistet ist, da<br />
muss auch Hartz IV geän<strong>der</strong>t werden‹ 7 zitiert.<br />
Nun sind die Kriterien <strong>der</strong> Bedürftigkeit im<br />
Rahmen des SGB II eindeutig vorgegeben –<br />
schließt man falsche Angaben <strong>der</strong> Betroffenen<br />
sowie unkorrektes Verwaltungshandeln <strong>der</strong><br />
Träger <strong>der</strong> Grundsicherung aus, so sind alle<br />
Hartz-IV-Empfänger bedürftig und damit leistungsberechtigt.<br />
Hinter <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung, die<br />
Leistungen auf die ›wirklich Bedürftigen‹ zu<br />
beschränken, steht das Begehren, Anspruchsvoraussetzungen<br />
enger zu fassen und/o<strong>der</strong><br />
Leistungen weiter zu kürzen, also die politisch<br />
gesetzten Bedarfskriterien nach unten zu<br />
drücken, häufig unter Verweis auf die angebliche<br />
Kostenexplosion durch Hartz IV (vgl. hierzu<br />
Schaubild 4). Der Umstand jedoch, dass<br />
es verbreitet Niedrigstlöhne gibt, kann nicht<br />
die Begründung dafür sein, auch die Fürsorge<br />
auf ein am Ende selbst die physische Existenz<br />
nicht mehr absicherndes Niveau zu kürzen.<br />
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Diejenigen,<br />
die sich zu Niedrigstlöhnen verdingen müssen<br />
o<strong>der</strong> überhaupt keine Ar<strong>bei</strong>t finden, können<br />
und sollen auf staatliche Fürsorgeleistungen<br />
zurückgreifen.<br />
Und an<strong>der</strong>s als öffentlich unterstellt, kennt<br />
das Fürsorgerecht für Erwerbsfähige keine<br />
individuelle Wahlmöglichkeit zwischen Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
einerseits und Bezug von Grundsicherungsleistungen<br />
an<strong>der</strong>erseits. Es besteht<br />
eine Pflicht zur Verwertung <strong>der</strong> eigenen<br />
Ar<strong>bei</strong>tskraft. Wer sich ohne wichtigen Grund<br />
weigert, Ar<strong>bei</strong>t, auch Pflichtar<strong>bei</strong>t in Form<br />
sogenannter Ein-Euro-Jobs aufzunehmen, dem<br />
drohen drastische Leistungskürzungen.<br />
5 Vgl. Thorsten Kalina / Claudia Weinkopf: Mindestens sechs<br />
Millionen Niedriglohnbeschäftigte in Deutschland: Welche Rolle<br />
spielen Teilzeitbeschäftigung und Minijobs? IAT-Report 03-<strong>2006</strong>.<br />
6 SPD-Fraktionschef Peter Struck in <strong>der</strong> BILD am Sonntag<br />
vom 21.05.<strong>2006</strong>.<br />
7 Bundeskanzlerin Merkel auf einer CDU-Regionalkonferenz,<br />
zitiert nach: Frankfurter Rundschau vom 22.05.<strong>2006</strong>.<br />
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