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Storys aus dem Deutschen Alltag 1989 - 2008 - Storyal

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Mauerfall <strong>1989</strong><br />

Um 20 Uhr fand eine Beratung im Kirschbergweg<br />

zur Perspektive der Designwissenschaft an der Burg<br />

statt. Gegen 22:30 war ich zu H<strong>aus</strong>e und sah die<br />

Tagesthemen mit Hajo Friedrichs. Dort wurde von<br />

Menschenmassen <strong>aus</strong> Ostberlin vor den Grenzübergängen<br />

nach Westberlin berichtet. Die DDR-Bürger<br />

versuchen, auf Grund der angeblich neuen Grenzregelung,<br />

mit ihrem Personal<strong>aus</strong>weis nach Westberlin<br />

zu kommen. An den Grenzübergängen Bornholmer<br />

Strasse und Invalidenstrasse soll das schon ohne<br />

jede Formalität möglich sein. Keine klaren Informationen<br />

zur Zeit.<br />

Das kann unmöglich wahr sein! In meinem Kalenderbuch<br />

steht: ‚Aprilscherz ?!! Ich kann es nicht glauben<br />

!!! Aber es scheint wahr zu sein !? 23:40 ins Bett<br />

mit vielen Fragezeichen.‘ Das alles war so unvorstellbar,<br />

dass man es nicht mal denken konnte. Aber,<br />

sagte ich mir, interessanter kann es kaum werden,<br />

mal sehen, was sich bis morgen früh bei der Nachrichtenlage<br />

getan hat. Mit den 6-Uhr Nachrichten<br />

<strong>aus</strong> <strong>dem</strong> Radio gab es dann Gewissheit: Tatsächlich,<br />

nicht zu fassen: Die Mauer ist für uns jetzt problemlos<br />

passierbar!!<br />

Im Fernsehen sah ich dann, was in dieser Nacht in<br />

Berlin los gewesen war. Ein Ostberliner sagte: ‚Wer<br />

heute Nacht schläft, der ist tot !!‘ Tot war ich nicht,<br />

im Gegenteil. Ich stand voll unter Strom und es gab<br />

nur eines: Ich musste so schnell wie möglich nach<br />

Berlin.<br />

Am 10. November <strong>1989</strong> wurde für mich persönlich<br />

die Mauer um Westberlin geöffnet! Eigentlich ist das<br />

bereits in der Nacht vorher passiert, aber da war ich<br />

(wie jetzt) in Halle.<br />

Am Morgen hörte in den Radio-Nachrichten: Ganz<br />

Berlin war in dieser Nacht auf den Beinen, denn es<br />

war tatsächlich wahr geworden, die DDR-Bürger<br />

konnten mit ihrem Personal<strong>aus</strong>weis ohne weitere<br />

Formalitäten die Grenze in beiden Richtungen passieren.<br />

T<strong>aus</strong>ende hatten das in dieser Nacht <strong>aus</strong>probiert.<br />

Als ich das hörte, hielt es mich nicht mehr in<br />

Halle. Hier lief ein Lehrgang zu DECOS, aber ich<br />

war kaum in der Lage, ihn ordentlich zu Ende zu<br />

bringen. Es war Freitag. Gegen 13 Uhr fuhr ich mit<br />

Frick bis zur Autobahn in Richtung Berlin. Von dort<br />

<strong>aus</strong> trampte ich nach Berlin - das erste Mal seit 30<br />

Jahren wieder. Vorher bezahlte ich bei der Volkspolizei<br />

noch 10 Mark Strafe wegen Verstoss gegen die<br />

StvO § 34 (6) - Unbefugtes Betreten der Autobahn.<br />

Gegen 17 Uhr sind wir am Grenzübergang Drewitz<br />

(Dreilinden). Lächelnde Volkspolizisten, Rosen<br />

am Abfertigungsschalter. Ich bin in Westberlin !!<br />

Dann laufe ich vom Theodor-Heuss-Platz bis zum<br />

Ku‘damm und über den Tauentzien. Himmel und<br />

Menschen! Die Glocken der Gedächtniskirche läuten<br />

um 20 Uhr, gerade als ich am Kranzlereck bin.<br />

Mir wird ganz flau. Vom Wittenbergplatz bis zum<br />

Hallischen Tor mit der legendären U-Bahnline 1 -<br />

völlig verstopft - und von dort zum Check Point<br />

Charlie an der Friedrichstrasse: Blitzlichtgewitter,<br />

Trommeln auf Autos, Sektflaschen. Die ganze Stadt<br />

ist im Freudentaumel. Erst gegen 1 Uhr in der Nacht<br />

war ich zu H<strong>aus</strong>e in Spindlersfeld. In der Anlage finden<br />

sich zwei Seiten mit Stichworten, die ich danach<br />

am Vormittag des 11. November <strong>1989</strong> aufgeschrieben<br />

habe (Original im Ordner IV/1992).<br />

Diese Nacht war unbeschreiblich. Es war sicher<br />

die abenteuerlichste und ereignisreichste Nacht<br />

meines Lebens. Solche Emotionen werde ich nie<br />

wieder erleben. 30 Jahre lang rennt man an der einen<br />

(falschen) Seite der Mauer lang, hat überhaupt<br />

keine Perspektive, diese Mauer zu überwinden und<br />

erst recht ist keine Hoffnung in Sicht, diese Mauer<br />

zu beseitigen. Und plötzlich, ohne Vorwarnung und<br />

ohne sichtbaren Anlass fällt diese Mauer buchstäblich<br />

über Nacht zusammen und jeder Ostberliner<br />

bekommt eine ganze, lebendige und hervorragend<br />

funktionierende Stadt, direkt neben seiner eigenen,<br />

so ganz einfach und nebenbei geschenkt !! Das ist<br />

einmalig und fast nicht zu verkraften. Ich hatte in<br />

dieser Nacht Mühe, die Realität zu begreifen.<br />

Einer der stärksten Eindrücke dieser Nacht war, als<br />

ich an der Jannowitzbrücke sah, wie Bauarbeiter die<br />

U-Bahn dort wieder öffneten. Leute, die erst 30 Jahre<br />

alt waren, hatten dort nie in ihrem Leben eine U-<br />

Bahn gesehen! Wer wusste noch, dass dort im Untergrund<br />

tatsächlich immer eine U-Bahn fuhr, ohne<br />

im Osten zu halten ?! Als ich das sah war mir klar,<br />

hier ist etwas passiert, das geht nicht mehr zurückzudrehen.<br />

Zeitweilig aber geht es mir heute noch so,<br />

dass ich mir sage: Das kann doch alles gar nicht wahr<br />

sein !! Zum Beispiel wenn ich in die Hosentasche<br />

greife und dort ‚Westgeld‘ finde oder wenn ich in<br />

Berlin mit <strong>dem</strong> Fahrrad ‚durch die Mauer‘ fahre. Die<br />

Mauer ist jetzt schon vollständig abgebaut, aber mir<br />

fällt es immer wieder auf, wenn ich an so einer Stelle<br />

vorbeikomme.<br />

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